Hans-Thies Lehmann. Brecht lesen. Berlin: Theater der Zeit, 2016. 327 Seiten.
Published online by Cambridge University Press: 09 April 2021
Summary
Der 1. Januar 2027 rückt näher und damit der siebzigste Todestag von Bertolt Brecht, der den weltbekannten Dichter und Theaterdenker gemeinfrei werden lässt. Entsprechend macht sich die Essaysammlung Brecht lesen schon einmal auf den Weg, den von Lehmann prognostizierten unvoreingenommenen Blick auf den Dichter jenseits der orthodoxen Rezeption und der politischen, literarischen und theaterästhetischen Klischees anzutreten, zugunsten einer Aktualisierung der Brechtforschung.
Lehmanns Band versammelt insgesamt einundzwanzig neue und überarbeitete Essays aus den Jahren zwischen 1978 und 2016, die Brecht nicht jenseits, sondern als Teil der literarischen Moderne begreifen. Es gilt, sein Schaffen einerseits in der Ambivalenz zwischen Widerstand und Widerspruch zu perspektivieren, andererseits begreift der Theaterwissenschaftler Brechts Werk auch als Ergebnis taktischer Rücksichten und strategischer Unternehmungen der Allianzbildung. Er sieht dabei in Rekurs auf Adorno eine adäquate Brecht-Lektüre nur möglich, wenn weder die politische Dimension noch die artistische Darstellung ausgeblendet werden (240), eine Balance, die der vorliegende Band einzuholen versucht.
Der Ausgangspunkt der Zusammenstellung verschiedener Aufsätze über Brechts Gesamtwerk ist es, den Fokus stärker auf die lyrischen Arbeiten des Dichters zu lenken. Was zunächst in einem Theater-Band irritieren mag, wird im Hinblick auf den Zielgedanken der Monographie schnell deutlich: Der von der Forschung immer wieder hervorgebrachten Banalisierung und Didaktisierung von Brechts Lehrstücken gilt es durch die Verbindung von lyrischen und dramatischen Texten einen differenzierten und komplexen Blick auf den Autor und sein Wirken entegenzustellen. Hierfür braucht Lehmann die Gedichte, über die er neu auf Brecht schaut, frei nach dem Motto: Wer solche Gedichte schreibt, könne keine banale, belehrende Theatertheorie entwerfen. Entsprechend umfasst der Band ebenso viele Lyrik-Aufsätze (Essays 3–5, 7, 16 und 18) wie Arbeiten zu den Theaterstücken (Essays 6 und 8–12).
Brecht, das macht Lehmann immer wieder deutlich, wollte kein bestimmtes Denken verbreiten, sondern Denkweisen verändern (234). Lehmann jongliert hierfür in einer zugänglichen und teils bildhaften Sprache zwischen Brechts Texten—seien es Gedichte, Lehrstücke oder epische Theatertexte— und zieht intertextuelle Bezüge in einer Weise heran, die wohl nur ein echter Brecht-Kenner leisten kann. Über die Darstellung der schönsten und bedeutendsten Gedichte, aber auch über Fragment gebliebene Theaterstücke hinaus wendet sich Lehmann in weiteren Aufsätzen zentralen Themen wie dem Tod als Aktivum, dem Vergessen und der Verausgabung, der Sexualität sowie den Motiven Wasser oder Herbst zu (Essays 17, 19, 20).
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- The Brecht Yearbook / Das Brecht-Jahrbuch 42Recycling Brecht, pp. 274 - 278Publisher: Boydell & BrewerPrint publication year: 2018