1. Einleitung
Die Frage nach der jüdischen Identität und Prägung des Paulus beschäftigt die neutestamentliche Forschung schon die ganze letzte Hälfte des 20 Jh.s. Einen besonderen Impetus hat diese Forschungsdebatte dabei in den letzten Jahrzehnten durch das vermehrte Interesse von jüdischen Exegetinnen und Exegeten an den Paulusbriefen erhalten.Footnote 1
Zur Diskussion steht dabei kaum noch die jüdische Identität des Paulus im Allgemeinen,Footnote 2 sondern speziell die Relevanz des Judeseins für die Lebensführung des christusgläubigen Paulus. D.h. besonders die Frage nach der Kontinuität jüdischer Lebensweise nach der Hinwendung zu Christus hat in den letzten Jahrzehnten verstärkt die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen. Sie findet ihre Zuspitzung in Fragen wie der, ob Paulus auch nach seiner Hinwendung zu Christus weiterhin jüdische Speiseregeln befolgt habe und, wenn ja, welche normative Bedeutung diese für ihn hatten.Footnote 3 Eine besondere Rolle in dieser Debatte kommt dabei den autobiographischen Bemerkungen des Paulus in 1 Kor 9,19–23 zu mit der hier erzählten Anpassung seines Verhaltens an unterschiedliche ethnisch-religiöse Gruppierungen.
Denn unabhängig von der Antwort auf die vieldiskutierte Frage, inwieweit die paulinischen Briefe neben nichtjüdischen Christusgläubigen auch speziell jüdische Christusgläubige im Blick haben, ist dies mindestens dort unstrittig, wo der Jude Paulus sich selbst zum Gegenstand seines Briefes macht.Footnote 4 Zentral für das Verständnis von 1 Kor 9,19–23 ist die Frage, was man unter der von Paulus beschriebenen Adaptabilität versteht und wie sich diese zu jüdischer Lebensweise verhält. Die gegenwärtige Forschung ist in dieser Hinsicht von sich konträr gegenüberstehenden Positionen bestimmt.
2. 1 Kor 9,19–23 in gegenwärtigen Paulusinterpretationen
Auf der einen Seite stehen eher klassische Interpretationen, die die paulinische Adaptabilität wesentlich im Hinblick auf die religiöse Lebensführung des Paulus deuten. So habe Paulus sich etwa im Umgang mit Juden an jüdische Speiseregeln gehalten, im Umgang mit Nichtjuden jedoch eine größere Flexibilität an den Tag gelegt.Footnote 5 Die in 1 Kor 9,19–23 beschriebene Variabilität des Paulus wird dann als Hinweis darauf gesehen, dass Paulus bei seiner Hinwendung zu Christus mit dem Judentum „gebrochen“ habe,Footnote 6 oder aber seine jüdische Identität ganz in den Hintergrund gelangt sei.Footnote 7 Und auch dort, wo solch weitreichende Interpretationen nicht geteilt werden, wird die Stelle häufig als Beleg dafür angeführt, dass die jüdische Lebensweise für Paulus bei seiner Hinwendung zu Christus zu einem „Adiaphoron“ geworden sei,Footnote 8 oder zumindest eine radikale Relativierung erfahren habe. In dieser Interpretationslinie stehend argumentierte erst kürzlich U. Schnelle ausgehend von 1 Kor 9,19–23, dass Paulus nicht länger ein Jude „im Vollsinn“ sei, da die von ihm beschriebene Anpassung seines Verhaltens weit über das hinaus ginge, „was für eine jüdische Identität zumutbar wäre.“Footnote 9 Demnach könne Paulus auch weiterhin solch einer jüdischen Lebensweise folgen, wenn es der Verkündigung des Evangeliums diene. Zugleich bestehe für Paulus allerdings kein über das Evangelium hinausgehender Mehrwert für eine jüdische Lebensweise.
Dem stehen auf der anderen Seite Interpretationen aus einer „Paul within Judaism“ Perspektive entgegen, deren Interpretationen ganz von dem Anliegen getragen sind, die bleibende Relevanz der jüdischen Lebensweise auch für die Zeit nach seiner Hinwendung zu Christus zu konstatieren. Ausgehend von anderen paulinischen Stellen wie Röm 11,1,Footnote 10 in denen die bleibende Relevanz der jüdischen Identität und Prägung auch für den christusgläubigen Paulus unzweideutig hervorgeht, wird solch ein Verständnis auch grundsätzlich für Paulus behauptet. So wird etwa angenommen, Paulus hätte sich Zeit seines Lebens – aus tiefer Überzeugung heraus – koscher ernährt.Footnote 11 Um solch ein Paulusbild auch für 1 Kor 9 aufrecht erhalten zu können, wird von Exegeten wie Mark Nanos und Paula Fredriksen angenommen, Paulus beschreibe in 1 Kor 9,20–23 lediglich seine rhetorische Anpassung, keinesfalls jedoch eine tatsächliche Anpassung seines Verhaltens, erst recht nicht seiner jüdischen Lebensweise: „Such ,rhetorical adaptability‘ consists of varying one's speech to different audiences: reasoning from their premises, but not imitating their conduct in other ways.“Footnote 12
Beide skizzierten Interpretationslinien weisen dabei jedoch im Kontext der Makroperikope von 1 Kor 8–11,1 einige Schwierigkeiten auf. Zum einen scheint es entgegen der Interpretationen von Nanos und Fredriksen im unmittelbaren Kontext weitgehend ausgeschlossen, dass Paulus in 1 Kor 9,19–23 etwas anderes als die Anpassung seines Verhaltens im Blick hat. Denn in 1 Kor 8 und 10 wird unmissverständlich deutlich, dass Paulus von seinen Adressaten eine echte Verhaltensänderung anmahnt und dementsprechend auch sein autobiographisches Beispiel kaum auf eine rein rhetorische Anpassung beschränkt sein kann. Von den Korinthern fordert Paulus, auf den Verzehr von Fleisch, das zuvor in kultischen Kontexten verwendet worden war, zu verzichten, wenn es einem Bruder zu einem Glaubenshindernis wird (vgl. 1 Kor 8,9.12–13). Wenn er nun zur Veranschaulichung dieser Selbstzurücknahme zu Gunsten des Glaubensbruders in Kp. 9 autobiographische Beispiele für solch ein Verhalten anführt, ist auch für die in 9,19–23 beschriebene Adaptabilität von eben solch einem tatsächlichen Verhalten auszugehen.
Zum anderen lassen jene Interpretationen, die in der Adaptabilität des Paulus das Ergebnis einer Befreiung vom jüdischen Gesetz und jüdischer Lebensweise sehen, die Frage aufkommen, ob hier nicht zu Unrecht für die Deutung von 1 Kor 9,19–23 die lediglich sprachlich verwandten Argumentationen in Röm 6,15–23 und Gal 5,1–15 herangezogen werden. So kommentiert etwa Gabriele Boccaccini: „Being no longer ,under the law‘ (1 Cor 9. 20) meant for him that he was no longer under the power of sin and was justified in Christ.“Footnote 13 Die anthropologischen Abschnitte aus Röm 6,15–23 sowie Gal 5,1–15 stehen auch dort im Hintergrund der Interpretation von 1 Kor 9, wo sie zwar nicht explizit angeführt werden, aber wo die Freiheit, von der Paulus spricht, nicht als schlichter Gegensatz zur Versklavung, sondern als eine spezifisch christliche Freiheit verstanden wird. V.a. in der deutschsprachigen Kommentarliteratur ist die Annahme verbreitet, wonach die Freiheit den Ermöglichungsgrund für den Verzicht auf die ἐξουσία darstelle. So kommentiert etwa W. Schrage: „Die Freiheit […] begründet sehr wohl den Verzicht auf die ἐξουσία.“Footnote 14
In Röm 6 und Gal 5 geht es Paulus um den absolut gedachten und sich gegenseitig ausschließenden Gegensatz zwischen der Knechtschaft unter der Sünde und dem Gesetz sowie der Freiheit in Christus. Solch ein sich ausschließender Dualismus ist in 1 Kor 9 aber nicht im Blick. Das zeigt sich u.a. daran, dass Paulus gerade als Freier (9,19) sich selbst und freiwillig versklavt (9,19b) und ebenso darin, dass in 1 Kor 9 jede Rede von der „Befreiung“, „Erlösung“ oder dem Abschütteln einer zuvor bestandenen Knechtschaft fehlt.Footnote 15
Der Skopus besteht demnach nicht in dem Gegeneinander von Knechtschaft und Freiheit,Footnote 16 sondern von grundsätzlicher Freiheit und dem Gebrauchmachen dieser Freiheit in konkreten Lebenssituationen. Man beachte, dass im ganzen Kp. 9 kein Wort davon die Rede ist, wonach Tod und Auferstehung Christi die Freiheit erst ermöglichen würden. Das Zustandekommen der Freiheit ist überhaupt nicht im Blick. Auch ist nirgends davon die Rede, dass die als spezifisch christlich gedachte Freiheit die notwendige Voraussetzung für die Selbstversklavung wäre.Footnote 17
Für das Verständnis der Motivation und Tragweite der in den Vv.20–23 beschriebenen Adaptabilität des Paulus ist deshalb wesentlich, wie man die den Gedankengang einleitende Metapher von der Selbstversklavung versteht.Footnote 18 Fasst man den qualifizierenden Zusatz ἐκ πάντων in 9,19a maskulinisch auf,Footnote 19 „frei von jedermann“, dann findet sich in der Rede vom Freisein von anderen Menschen bereits das konzessiv gedachte Gegenstück zur in V.19b eingeführten metaphorischen Rede von der Selbstversklavung: πᾶσιν ἐμαυτὸν ἐδούλωσα. In der Folge expliziert Paulus diesen Zustand der Sklaverei mit dem Hinweis auf die Anpassung seiner Verhaltensweise entsprechend der ethnisch-religiösen Beschaffenheit der ihn umgebenden Menschen. Die Verwendung der Metapher von der Selbstversklavung in 1 Kor 9,19 und ihre lebensweltlichen Bezugspunkte sollen deshalb im Folgenden näher beleuchtet werden, um die Wahrheitsmomente gegenwärtiger Deutungen von 1 Kor 9,19–23 beurteilen zu können.
3. Die Metapher von der Selbstversklavung in 1 Kor 9,19
Grundsätzlich ist dabei anzunehmen, dass es dem Verwendungszusammenhang einer Metapher – also etwa der spezifischen Formulierung, paradigmatischen Relationen und der Frage, was überhaupt so beschrieben wird – zu entnehmen ist, was vom jeweiligen Konzept für das Verständnis der Metapher relevant ist. Fragt man sodann nach der Verwendung der Sklavenmetapher in anderen neutestamentlichen Schriften, dann wird dort (vgl. etwa Mk 13,30–9; Lk 12,35–8) ebenso wie im paulinischen Selbstverständnis als δοῦλος Χριστοῦ (vgl. Gal 1,10; Röm 1,10; Phil 1,1) in erster Linie der Aspekt des Dienens bzw. des Unterordnens des Sklavens gegenüber seinem Herrn als Vergleichspunkt herangezogen. Dieses Bildelement der Unterordnung wird auch im Kontext von 1 Kor 9 deutlich herausgestellt, v.a. durch die Kontrastierung der Selbstversklavung mit dem Zustand des Freiseins (9,19). Ebenso durch den Abschluss in 9,23 mit dem final zu verstehenden „alles aber tue ich διὰ τὸ ɛὐαγγέλιον“.Footnote 20 Fragt man nach weiteren durch den unmittelbaren Kontext aktivierten Bildelementen der Metapher dann sticht v.a. die im Kontext der antiken Sklaverei unübliche Rede von der Selbstversklavung heraus. D.h. die Rede von der Selbstversklavung dient im Kontext dazu, gerade die selbstlose und freiwillige Unterordnung zu betonen.
Neben diesen für sich genommen noch wenig überraschenden Überlegungen soll nun im Licht der oben beschriebenen forschungsgeschichtlichen Gemengelage gefragt werden, inwieweit die metaphorische Rede von der Selbstversklavung neben jenen Vergleichspunkten auch dazu herangezogen werden kann, um die anschließenden Explikationen der Anpassung des paulinischen Verhaltens näher zu beleuchten. Dabei muss es um zweierlei gehen: Um die Frage, inwieweit eine Verhaltensvariabilität Bestandteil antiker Konzepte der Sklaverei darstellt und ob dieses potentielle Bildelement der Metapher im konkreten Briefkontext aktiviert wird.
Metapherntheoretisch ist dabei zunächst davon auszugehen, dass der Bildspendebereich einer Metapher in der Regel wenig kultur- oder ethnospezifisch ist, sondern vielmehr allgemein verständlich und fast klischeehaft.Footnote 21 Wenn ich mich im Folgenden dennoch auf speziell jüdische Sklaven fokussiere, so ist dies in erster Linie als beispielhaft für die Grenzen und Möglichkeiten der religiösen Lebensführung von versklavten Menschen zu betrachten. Zudem lässt sich mit dem Fokus auf jüdische Sklaven zugleich erörtern, inwiefern das in 1 Kor 9 beschriebene Verhalten des Juden Paulus sich auch im Kontext des Verhaltens anderer zeitgenössischer Juden verstehen lässt. Vor dem Hintergrund der in 1 Kor 9,19–23 beschriebenen Adaptabilität geht es dabei neben der grundsätzlichen Frage nach der Verbreitung von jüdischer Sklaverei um die diesen Stand bestimmenden Grenzen und Möglichkeiten des Auslebens der eigenen jüdischen Identität.Footnote 22
3.1 Jüdische Identität im Stand der Sklaverei
Vor einer besonderen Herausforderung steht die Bewahrung der eigenen jüdischen Identität in jenen Fällen, in denen sich Diasporajuden in isolierten und stark von anderen abhängigen Lebenssituationen befinden.Footnote 23 Eine besonders isolierte und in ihrer Handlungsfreiheit stark eingeschränkte soziale Gruppe stellen für die gesamte Antike Menschen dar, die dem Sklavenstand angehören.Footnote 24 Die in der Forschung diskutierten quantitativen Urteile über die Anzahl von Sklaven weichen naturgemäß stark voneinander ab. So wird die Zahl der Sklaven im römischen Reich um die Zeitenwende auf einen Anteil zwischen 15 und 35 % an der Gesamtbevölkerung geschätzt.Footnote 25 Unter diesen zahlreichen Sklaven im römischen Reich sind auch eine große Menge an Juden belegt.Footnote 26 Vielmehr noch, in dem Verkauf von Juden als Sklaven dürfte ein nicht unwesentlicher Faktor für die Ausbreitung von Juden über die hellenistische Mittelmeerwelt zu finden sein.Footnote 27 Am eindrücklichsten ist dabei die massenhafte Deportierung von Juden im Folge der Eroberung Jerusalems unter Titus im Jahr 70 n.Chr.Footnote 28 Doch schon in der für die Frage nach dem lebensweltlichen Kontext der paulinischen Metapher von der Selbstversklavung maßgeblichen Zeit in den vorausgehenden Jahrhunderten lassen sich ähnliche Deportationen belegen.
Zu zahlreichen Versklavungen kam es durch die in Palästina ausgetragene Auseinandersetzung zwischen Ptolemäern und Seleukiden im 3. Jahrhundert. So erwähnt Arist 12 die (sicherlich übertreibende) Zahl von 100.000 jüdischen Kriegsgefangenen unter Ptolemäus I. Und Antiochus III. (223–187 v.Chr.) soll nach Josephus, Ant XII 147–53 insgesamt 2000 jüdische Familien nach Phrygien und Lydien deportiert haben.Footnote 29 Aber auch in Folge von Pompeius’ Einzug in Jerusalem 63 v.Chr.Footnote 30, sowie in den Jahrzehnten danach, sind Versklavungen von Juden sowie deren Deportation in andere Orte des römischen Reiches belegt.Footnote 31 Josephus erwähnt etwa in Ant XIV 85 die Zahl von 3.000 versklavten Juden und in Ant XIV 119f. erneut die Versklavung von 30.000 Juden unter Cassius in Folge von dessen Rückzug nach der Niederlage der Römer gegen die Parther bei Carrhae im Jahr 53 v.Chr. Auch wenn die Zahlen in dieser Größenordnung kaum zu verifizieren sind, dürften sie doch zugleich darauf hinweisen, dass die Anzahl jüdischer Sklaven im römischen Reich um die Zeitenwende nicht zu marginalisieren ist.Footnote 32
Das Ausmaß der Verbreitung von jüdischen Sklaven zeigt sich schließlich auch eindrücklich an der sowohl in jüdischer wie nichtjüdischer Literatur belegten und als selbstverständlich angenommenen Verknüpfung zwischen Juden (v.a. in Rom) und deren Status als Sklaven. So verweist Philo in Legatio 155 darauf, dass die Mehrheit der Juden in Rom als Kriegsgefangene dorthin verschleppt worden sei: Ρωμαῖοι δὲ ἦσαν οἱ πλɛίους ἀπɛλɛυθɛρωθέντɛς („Die meisten [von den Juden in Rom] aber waren Römer aufgrund ihrer Freilassung“). Und schon Cicero, in Pro Flacco 28,69, polemisiert gegenüber Juden, wonach deren Versklavung zeige, dass deren Gott sie nicht beschütze: quam cara dis immortalibus esset docuit, quod est victa, quod elocata, quod serva facta. („wie teuer es den unsterblichen Göttern war, zeigt sich daran, dass es besiegt, besteuert und versklavt wurde“). Wie selbstverständlich setzt Cicero hierbei voraus, dass jüdische Sklaven für seine Leserschaft ein bekanntes und darum weit verbreitetes Phänomen darstellen.
Jüdische Sklaven sind v.a. für die Stadt Rom breit bezeugt, dann aber auch in ähnlicher Weise für Alexandria und Ägypten insgesamt. Darauf verweisen schließlich mehrere erhaltene Papyri.Footnote 33 So die Erwähnung einer gewissen Johanna in einer Liste aus Fayyum, die die Verteilung von Lampenöl dokumentiert.Footnote 34 In einem Testament aus Krokodilopolis wird ferner die Überlassung verschiedener Sklaven erwähnt, darunter u.a. ein Jonathas, der als Fremder (παρɛπίδημος) mit syrischem Namen aufgeführt wird.Footnote 35 Für das ausgehende 1. Jh. v.Chr. ist aus Abusir el-Meleq schließlich die Dokumentation einer Geldzahlung überliefert, in der eine freigelassene Jüdin namens Martha die von ihrem ehemaligen Herren geerbte Schuld begleicht (τοῦ μɛτηλλαχότος τῆς μὲν Μάρθας πάτρονος).Footnote 36
Außerhalb Ägyptens ist die Existenz von jüdischen Sklaven den Quellen entsprechend meist epigraphisch belegt, etwa durch Inschriften, die die Freilassung von Juden dokumentieren. So die Freilassung der Jüdin Antigonas mit ihren Töchtern (Ἀντιγόνα τὸ γένος Ἰουδαίαν καὶ τὰς θυγατέρας αὐτας) in einer Inschrift in Delphi,Footnote 37 sowie ebenfalls in Delphi ein Freigelassener Mann mit dem Namen Ioudaios (Ἰουδαῖος τὸ γένος Ἰουδαῖον).Footnote 38
Weitere epigraphische Belege für jüdische Sklaven sind ferner für weitere Orte GriechenlandsFootnote 39, das Bosporanische ReichFootnote 40 und ItalienFootnote 41 belegt. Schließlich lässt auch die Erwähnung von τῆς συναγωγῆς τῆς λɛγομɛ́νης Λιβɛρτίνων („der sogenannten Synagoge der Libertiner“) in Apg 6,9 die Überlegung zu, ob es sich bei den Mitgliedern dieser Synagoge von Jerusalem um freigelassene jüdische Sklaven handelt, die etwa aus Rom nach Jerusalem zurückgekehrt waren.
Auch wenn viele Details im Dunkeln bleiben, dürfte es als sicher gelten, dass es spätestens vom 3. Jh. v.Chr. an eine erhebliche Zahl an jüdischen Sklaven gab und gerade deren Versklavung einen bedeutenden Anteil an der Ausbreitung von Juden im antiken Mittelmeerraum hatte. Lokale Schwerpunkte lassen sich v.a. für die Stadt Rom sowie für Ägypten belegen.
Davon ausgehend stellt sich für die Frage nach dem lebensweltlichen Bezugspunkt der paulinischen Metapher von der Sklaverei und der damit verbundenen Verhaltensänderung die Frage, inwieweit der Sklavenstand das Ausleben der eigenen jüdischen Identität tangierte.Footnote 42 Mangels Quellen, in denen konkrete Bewältigungsstrategien von jüdischen Sklaven bei nichtjüdischen Herren geschildert werden, sind wir dabei in erster Linie auf grundsätzliche Überlegungen angewiesen, allen voran auf die Übertragung der Rahmenbedingungen für antike Sklaven im Allgemeinen auf speziell jüdische Sklaven.Footnote 43 Hier zeigt sich, dass die ethnische Herkunft von Sklaven in den meisten Fällen bei den uns überlieferten Quellen nicht mehr feststellbar ist. So lässt sich festhalten, dass die ethnische Abstammung für den antiken Sklavenmarkt wohl nur eine untergeordnete Rolle spielte. Meist erhielten Menschen im Zuge ihrer Versklavung römische oder griechische Namen unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft.Footnote 44
Dabei gilt zunächst, dass die fehlende Autonomie eines Sklaven im römischen Reich nicht zwingend die individuelle Ausübung der „Religiosität“ des Sklaven – auch im Unterschied zur „Religion“ seines Herrn – unterband.Footnote 45 Zahlreiche Belege bezeugen, dass Sklaven sich grundsätzlich ebenso in eigenen Kollegien und Kultvereinen zusammenschließen konnten, wie dies für freie Menschen möglich war.Footnote 46 Ein dahingehender Hinweis findet sich evtl. auch bei Philo in Legat 155. Hier erwähnt Philo, dass von der großen Anzahl an jüdischen Freigelassenen in Rom niemand gezwungen worden sei, seine väterlichen Gebräuche zu verlassen (οὐδὲν τῶν πατρίων παραχαράξαι βιασθέντɛς).
Zugleich kann es von grundsätzlichen Überlegungen her als sicher gelten, dass zumindest manche Formen jüdischer Frömmigkeit für Juden, die als Sklaven in einem nichtjüdischen Haus dienten, unmöglich waren. Dies betrifft etwa das Einhalten der Sabbatruhe oder das Reisen nach Jerusalem zu bestimmten Festen. So kommentiert auch Catherine Hezser: „Once they were enslaved, slaves could hardly maintain their original religious orientation.“Footnote 47 Aber auch über solche Aspekte der jüdischen Frömmigkeit hinaus ist die Annahme naheliegend, dass dieselbe Unselbstständigkeit auch grundsätzlich für die Verpflegung von Sklaven vorauszusetzen ist. D.h. was ein (jüdischer) Sklave im Haus seines Herren verzehren konnte oder musste, und wie diese Speise zubereitet wurde, wird in vielen Fällen nur sehr bedingt seiner eigenen Freiheit oblegen sein.Footnote 48 Zahlreiche Quellen dokumentieren, dass in der Regel der Sklavenbesitzer bzw. der Mieter des Sklaven für dessen Verköstigung verantwortlich war.Footnote 49 Einige Quellen diskutieren etwa die Kosten, die ein Sklavenbesitzer für die Verköstigung und Einkleidung seiner Sklaven zu tragen hat.Footnote 50 Andere Quellen belegen, dass der Entzug von Nahrung offenbar als geeignetes Mittel zur Züchtigung von Sklaven angesehen wurde.Footnote 51 Es finden sich Überlegungen, dass man körperlich hart arbeitenden Sklaven mehr Nahrung zukommen lassen sollte, um deren Arbeitsfähigkeit nicht zu beeinträchtigen, und dass beim Austeilen von Wein Vorsicht geboten sei.Footnote 52 Und in Senecas Argumentation, wonach man seine Sklaven menschlich behandeln sollte, in Epistula Morales 47, schließt dies für Seneca mit ein, dass man jene etwa am gemeinsamen Tisch mitspeisen lasse.Footnote 53 Was uns die Quellen hinsichtlich des Status und den „Rechten“ von Sklaven in der Antike im Allgemeinen übermitteln, ist zunächst einmal auch für den Spezialfall von jüdischen Sklaven anzunehmen. D.h. auch jene waren Eigentum ihrer Herren und besaßen damit kaum rechtlich abgesicherte Ansprüche.Footnote 54 Für die Ernährung von Sklaven sowie die Wahl derer, die mit ihnen gemeinsam aßen, ebenso wie für andere Formen jüdischen Lebenswandels bedeutet dies, dass jene ganz von den individuellen Kontexten und den Freiheiten, die ihnen billigend zugestanden wurden, abhängig waren.
Dass es dabei im Einzelfall auch vorgekommen sein mag, dass jüdischen Sklaven eine besondere Diät oder die Einhaltung bestimmter Reinheitsvorstellungen im Zusammenhang mit der Beschaffenheit sowie der Zubereitungsform des Essens oder den Rahmenbedingungen der Essensaufnahme gewährt wurden, ist grundsätzlich möglich, allerdings nirgends in den Quellen dokumentiert.Footnote 55
Eine dahingehende Überlegung ließe sich für Josephus’ Paraphrase der Josephsnovelle in Ant II 39 anstellen. Über den Text der Genesis hinaus erwähnt Josephus hier, dass Joseph in seiner Zeit als Sklave bei Potiphar in Ägypten eine spezielle Diät erhält, die besser ist als die von anderen Sklaven (διαίτῃ χρῆσθαι κρɛίττονι τῆς ἐπὶ δούλῳ τύχης ἐπέτρɛπɛν). Im Kontext sind dabei allerdings weder Aspekte der Reinheit der Speise explizit erwähnt, noch wird dargelegt, dass die Sonderbehandlung des Josephs auf dessen jüdische Identität zurückgeht. Aus dieser kurzen Notiz lässt sich demnach höchstens ableiten, dass es durchaus vorkommen konnte, dass (jüdischen) Sklaven von ihren Herren ein gewisser Freiraum im Hinblick auf die von ihnen verzehrte Speise gewährt wurde. Jedenfalls hält Josephus dies für denkbar. Mehr noch als dies verweist die Paraphrasierung bei Josephus mit der Bemerkung διαίτῃ […] κρɛίττονι τῆς ἐπὶ δούλῳ τύχης („eine Diät besser als bei Sklaven üblich“) jedoch auf den grundsätzlichen Sachverhalt, dass (jüdische) Sklaven in der Regel gerade keine oder nur sehr eingeschränkte Mitbestimmungsmöglichkeiten über die von ihnen verzehrten Speisen besaßen.
Dass jüdische Sklaven im Regelfall den gleichen Bedingungen unterworfen waren wie andere Sklaven, darauf verweist auch der Umstand, dass zahlreiche Fälle überliefert sind, in denen Juden als Sklavenbesitzer in Erscheinung treten.Footnote 56 D.h. Juden konnten ebenso wie ihre nichtjüdischen Nachbarn Sklaven haben, und zwar ohne, dass nennenswerte Unterschiede aufgrund ihrer jüdischen Existenz auszumachen wären: „Jewishness itself had little if any relevance for the structure of slavery among Jews. […] Slavery among Jews of the Greco-Roman period did not differ from the slave structures of those people among whom Jews lived.“Footnote 57 Sklaven im Besitz von Juden wurden üblicherweise beschnitten, ähnlich wie später Sklaven im Haushalt von Christen getauft wurden. Eine analoge religiöse Vereinnahmung von Sklaven ist damit auch im Spezialfall von jüdischen Sklaven in nichtjüdischen Haushalten zu erwarten.Footnote 58
Einen konkreten Bezug auf die Situation von speziell jüdischen Sklaven lassen die Quellen nur an vereinzelten Stellen erkennen, so etwa bei Josephus in Ant XVI 1–4. Hier diskreditiert der jüdische Geschichtsschreiber ein neues Gesetz des König Herodes mit dem Verweis auf ältere jüdische Regelungen (vgl. etwa Lev 25,47–54; Neh 5,1–13), wonach Juden nicht an Nichtjuden als Sklaven verkauft werden dürfen. Als Begründung des Vorzugs dieser älteren Regelung führt Josephus an, dass beim Verkauf an Fremdstämmige (ἀλλοφύλοις), die demnach nicht nach der eigenen, d.h. jüdischen Lebensweise leben (μὴ τὴν αὐτὴν δίαιταν ἔχουσιν), der jüdische Sklave gezwungen sei zu tun, „was immer diese Leute aus Zwang anordnen“ (πάνθ᾿ ὅσα προσέταττον ἐξ ἀνάγκης ἐκɛῖνοι). In dieser Notiz wird deutlich, dass Josephus davon ausgeht, dass die Unfreiheit in Folge der Versklavung in einem nichtjüdischen Haushalt für die jüdische Existenz der versklavten Person zu einem ernsten Problem werden muss.Footnote 59 Vermutlich ist davon auszugehen, dass Josephus solche Fälle und die damit zusammenhängenden Schwierigkeiten bekannt waren.Footnote 60
Trotz aller Ungewissheit in den Details zeigt insgesamt der Vergleich mit den besser dokumentierten Lebensbedingungen von antiken Sklaven im Allgemeinen, dass das Bewahren der jüdischen Existenz im Zuge der Versklavung und der damit einhergehenden Isolierung vor große Herausforderungen gestellt sein musste. Dabei scheinen bestimmte Formen jüdischer Frömmigkeit wie die Sabbatruhe oder Pilgerreisen weitgehend ausgeschlossen. Aber auch andere Formen jüdischer Lebensweise, etwa im Zusammenhang mit Essen und Tischgemeinschaft werden für jüdische Sklaven nur mit Einschränkungen möglich gewesen sein. Von grundsätzlichen Überlegungen ausgehend wird man hierbei ein breites Spektrum unterschiedlicher Bewältigungsstrategien vermuten dürfen. Entscheidend ist dabei jedoch zugleich, dass es keine Gründe dafür gibt, solche Formen der (erzwungenen) Anpassung als eine Negierung der eigenen jüdischen Identität zu betrachten.
Wenn es deshalb als sicher gelten kann, dass die hinter der Metapher der Versklavung stehende antike Lebenswirklichkeit auch Momente der Variabilität des religiösen Verhaltens umfasst, stellt sich die Frage, ob jene potentiellen Bildelemente auch im konkreten Kontext des 1. Korintherbriefes aktiviert werden.
3.2 Die Metapher von der Selbstversklavung im Kontext von 1 Kor 8–11,1
An mehreren Stellen geben die paulinischen Briefe zu erkennen, dass für die Diasporagemeinden – allen voran für Korinth – die Existenz von zahlreichen Sklaven und Freigelassenen vorauszusetzen ist (vgl. 1 Kor 7,17–24; 12,3, Gal 3,28; Phlm), die jenem soeben dargelegten äußeren Zwang der Anpassung an die Lebenswelt und Lebensweise ihrer Herren unterlagen. Für das Verständnis der paulinischen Metapher, die dessen Verhaltensanpassung unter dem Stichwort der Versklavung beschreibt, ergibt sich daraus zum einen, dass Paulus eine Umschreibung für das von ihm angeführte Verhalten wählt, die durchaus der Lebenswelt seiner Adressaten entspringt. Nicht nur für die Sklaven oder Sklavenbesitzer in den Gemeinden von Korinth, sondern auch für die übrigen Adressaten ist vorauszusetzen, dass sie aus ihrer Lebenswelt mit dem Phänomen vertraut waren, wonach sich ein Sklave auch in Fragen seiner ethnisch-religiösen Lebensführung den konkret gegebenen Kontexten anpassen muss.Footnote 61
Die übergeordnete Makroperikope 1 Kor 8–11,1 behandelt die in der Gemeinde von Korinth offenbar umstrittene Frage, ob und unter welchen konkreten Bedingungen Christusgläubige Speisen verzehren dürfen, die bei einer Opferung für pagane Götter übriggeblieben sind („Götzenopfer“). Die unterschiedliche und kasuistisch veranlagte Argumentation des Paulus gibt dabei zu erkennen, dass es sich sowohl für den Apostel (vgl. v.a. 1 Kor 8,4–6; 10,14–22.26.31), wie auch für die Korinther (vgl. v.a. 1 Kor 8,7.10), um eine Frage nach der religiösen Lebensführung handelt, die in diesem konkreten Fall einen Bezug auf bestimmte Speisen und deren Herkunft sowie vorherige Verwendungszusammenhänge aufweist.
In diesem Kontext dient das autobiographisch gehaltene Kp. 9 nun als exemplum, das die Spannung zwischen der in 8,8 behaupteten Freiheit gegenüber dem Essen von Götzenopfer in „privaten“ Kontexten sowie der in 8,9 von Paulus geforderten und in 8,13 auch auf seine eigene Person hin ausgedrückte Nichtinanspruchnahme dieser Freiheit zu Gunsten des Bruders veranschaulicht.Footnote 62
Interessanterweise behält Paulus bei all den zahlreichen Verweisen und Beispielen in Kp. 9 den Bezug zur Essensthematik aufrecht. Nicht nur der Einstieg in den Aufweis seiner apostolischen Rechte mit der rhetorischen Frage, ob er nicht das Recht habe „zu essen und zu trinken“ (9,4), sondern auch der Verweis auf das Recht, als Apostel eine Frau in die Versorgung durch die Gemeinde miteinzuschließen (9,5), die lebensweltlichen Beispielen des Soldaten, des Weinbauern und des Hirten (9,7) sowie schließlich die Schriftbeweise durch den dreschenden Ochsen aus Dtn 25,4 (9,8–10) und den Verweis auf die Tempelbediensteten (9,13–14) haben alle einen Bezug auf das Thema der Versorgung mit Essen und Trinken.
Sowie Paulus in diesem weiteren Kontext der Götzenopferthematik von 1 Kor 8–10 exemplarisch seinen freiwilligen und unentgeltlichen Verzicht auf seine apostolischen Versorgungsrechte zu Gunsten des Evangeliums herausstellt (vgl. 9,12.15–18), setzt er dann in 9,19–23 noch einmal von Neuem bei der Frage nach der Freiheit (vgl. 9,1.19) an und beschreibt sie nun mit dem Verweis auf seine Selbstversklavung, die er dann näher entfaltet.
Betrachtet man nun vor dem Hintergrund der antiken Bedingungen für das Ausgestalten der eigenen jüdischen Existenz eines Sklaven die Verwendung der Sklavenmetapher im Kontext von 1 Kor 8–10, dann erscheint es durchaus plausibel, dass die Metapher der Selbstversklavung hier zugleich auch jene Bildelemente der Unterordnung der speziell eigenen jüdischen Lebensweise mittransportiert. D.h. die paulinische Metapher von der Versklavung verweist ebenso wie die daran anschließenden Explikationen darauf, dass Paulus analog zu einem Sklaven, der seine jüdische Lebensweise soweit als notwendig an die Bedürfnisse seines Herrn anpassen muss, ebenso sein eigenes Verhalten – freiwillig – dem übergeordneten Ziel des Evangeliums unterordnet.Footnote 63 Im Kontext der Argumentation um den Verzehr von Götzenopfer in 1 Kor 8–10 sowie im Licht der Herausforderungen für die adäquate Ernährung von (jüdischen) Sklaven scheint es darüber hinaus zumindest wahrscheinlich, dass die paulinische Adaptabilität des Verhaltens auch speziell jüdische Speisevorschriften miteinschließt.
3.3 Ergebnis
Die so verstandene Metapher von der Selbstversklavung zeigt, dass es Paulus weder mit dem Terminus der Freiheit in 1 Kor 9,19a noch in den darauffolgenden Explikationen um die Freiheit des Apostels vor dem Gesetz an sich geht. Genauso wenig ist es notwendig, die Rede von der Freiheit des Apostels in V.19a als eine spezifisch christliche Freiheit zu deuten, die das Ergebnis einer zuvor geschehenen Erlösung von der Abhängigkeit gegenüber einer Größe wie Sünde oder Gesetz analog zu Röm 6 und Gal 5 darstellt.
Vielmehr gibt Paulus mit der Metapher von der Selbstversklavung zu verstehen, dass es ihm bei der Anpassung seines Verhaltens nicht um eine absolute Freiheit, sondern die richtige, d.h. dem Evangelium angemessene Relation der verschiedenen Normen geht. So wie Paulus in 1 Kor 9,7 nicht grundsätzlich die Norm aufhebt, dass ein Soldat seinen Sold erhalten soll, oder dass ein Weinbauer von seinen eigenen Trauben essen soll, so ist auch in V.19 die Freiheit nicht in absoluter, sondern in relationaler Hinsicht gedacht. D.h. es gibt m.E. keinen zwingenden Anlass zu Interpretationen, wonach die paulinische Anpassung des Verhaltens dessen jüdische Lebensweise zu einem Adiaphoron erkläre oder grundsätzlich dessen jüdische Identität in Frage stelle. Jüdische Lebensweise wird in 1 Kor 9,19 weder per se abgewertet, noch streitet Paulus dieser für sich und anderen christusgläubigen Juden eine bleibend normative Bedeutung ab. Auch wenn dies an dieser Stelle nicht ausführlich dargelegt werden kann, lässt sich solch ein Verständnis von 1 Kor 9,19 m.E. auch für die darauffolgenden Explikationen in den Vv. 20–23 aufrechterhalten.
Interpretiert man die paulinische Metapher der Versklavung in 1 Kor 9,19 nicht im Kontext der anthropologischen Überlegungen aus Röm 6 und Gal 5, sondern eng innerhalb des von dem lebensweltlichen Bezug eines jüdischen Sklavens vorgegebenen Rahmens sowie der im Kontext von 1 Kor 8–10 aktivierten Bildelemente, dann lässt sich zugleich auch eine verbindende Lesart der oben skizzierten Linien gegenwärtiger Interpretationen von 1 Kor 9,19–23 bewerkstelligen. So lässt sich entgegen neueren Interpretationen aus einer „Paul within Judaism“ Perspektive plausibilisieren, dass Paulus in 1 Kor 9,19–23 zum einen eine tatsächliche Anpassung seines Verhaltens beschreibt und zum anderen, dass diese vermutlich auch eine Anpassung seiner jüdischen Verhaltensweisen inklusive der Befolgung jüdischer Speisegebote miteinschließt. Zugleich ergibt sich jedoch aus den oben angestellten Überlegungen zur Situation von speziell jüdischen Sklaven, dass die paulinische Konzeption von der Unterordnung der eigenen jüdischen Lebensweise unter höher zu gewichtende Normen in 1 Kor 9,19–23 weder eine paulinische Innovation noch ein „christliches“ Proprium darstellt. Vielmehr ist davon auszugehen, dass zumindest jüdische Sklaven – v.a. in der Diaspora – schon lange vor Paulus und auch lange vor den Anfängen der Jesusbewegung mit analogen Situationen vertraut waren, in denen sie ihre jüdische Lebensweise den Lebensumständen unterordnen und pragmatisch anpassen mussten.
Acknowledgements
Dieser Aufsatz geht auf einen Vortrag im Rahmen eines neutestamentlichen Regensburger-Züricher Kolloquiums im Oktober 2021 in Regensburg zurück. Herzlichen Dank an alle dort Teilnehmenden, v.a. an Tobias Nicklas und Michael Sommer, für wertvolle Rückmeldungen und Ideen.
Competing interests
The author declares none.