1. Die Fragestellung und die These
Die Entdeckung des „inneren Menschen“ ist in Philosophie und Anthropologie seit langem fest verwurzelt – sie setzt nicht erst mit Descartes oder Kant ein. Sie begegnet vielmehr in verschiedenen Varianten bereits bei Platon und Aristoteles, im delphischen Aphorismus des γνῶθι σεαυτόν (vgl. (Ps.-)Platon, Alkibiades 1,129a) oder auch bei Paulus. Bis in die Gegenwart hinein hat die Entdeckung des „inneren Menschen“ eine breite Wirkungs- und Interpretationsgeschichte hervorgebracht, die inzwischen auch in die Psychologie und Neurowissenschaften reicht.Footnote 1 Im Lichte des vielfältigen antiken selfhood-DiskursesFootnote 2 gewinnt die Frage, wie und warum es bei einem antiken Briefeschreiber wie Paulus zur Erforschung und Beschreibung seiner „inneren Person“ kommt und in welcher Weise dabei ein „introspektiver“ Denk- und Sprechmodus gewählt wird, erneut an Bedeutung. Der vorliegende Beitrag zielt darauf, den genannten Fragekomplex zu bearbeiten.
Ich beginne zunächst mit zwei klassischen Deutungsansätzen, die uns direkt zu Paulus führen.Footnote 3 Hans Dieter Betz hat in seiner „presidential lecture“ der SNTS 1999 das Konzept des ἔσω ἄνθρωπος in 2 Kor 4,16 und Röm 7,22 ausführlich untersucht und anschließend „Paul's place in ancient anthropology“ zu bestimmen gesucht.Footnote 4 Demnach knüpft Paulus mit dem ἔσω ἄνθρωπος, getrieben von eschatologischen Diskussionen in Korinth, an das sokratisch-platonische Konzept der Innerlichkeit („inner dimension“) des Menschen im Blick auf die Suche nach Moral und Gerechtigkeit an (vgl. Platon, pol).Footnote 5 Ob Paulus das platonische Konzept bewusst oder unbewusst adaptiert hat, bleibt nach Betz dahingestellt.Footnote 6
In ihrem Alterswerk „Vom Leben des Geistes: Das Wollen“ (amerik. Original: „The Life of the Mind: Willing“), das 1974 zuerst in Teilen im Rahmen der Gifford Lectures in Aberdeen vorgetragen wurde, zeichnet auch Hannah Arendt den Apostel Paulus in die Geschichte der Entdeckung des inneren Menschen ein. Den in Röm 7 beschriebenen Kampf „zwischen dem Ich-will und dem Ich-will-nicht“ deutet Arendt als Ausdruck eines „gespaltenen Willens“. Mit Blick auf das in Röm 7,19 geschilderte Dilemma: „Nicht nämlich, was ich will, tue ich: Gutes, sondern das, was ich nicht will: Böses, das tue ich“, weist Arendt zwar auf Motivparallelen bei Ovid (Met. 7,20f.) oder schon Euripides (Med. 1078–80) hin.Footnote 7 Allerdings, so Arendt, macht allein Paulus das Dilemma zwischen Wollen und Unvermögen zu einem „Zwei-in-einem“ Gespalten-sein:
… der Wille ist nicht deshalb ohnmächtig, weil ihm etwas Äußeres Hindernisse in den Weg legen würde, sondern weil der Wille sich selbst behinderte.Footnote 8
Nach Arendt ist das Dilemma, das Paulus in Röm 7 beschreibt, per se unlösbar:
Der Wille, der da gespalten ist und auf der Stelle seinen eigenen Gegenwillen hervorbringt, bedarf der Versöhnung, muß wieder eins werden. Wie das Denken hat auch das Wollen das Eine in ein Zwei-in-einem gespalten, doch für das denkende Ich wäre eine „Versöhnung“ der Spaltung das Schlimmste, was geschehen könnte; es würde dem Denken überhaupt ein Ende setzen.Footnote 9
Daher sucht Paulus als Jude, für die
unbeantwortbaren Fragen, die sein neuer Glaube und die neuen Entdeckungen seiner eigenen Innerlichkeit aufgeworfen hatten,
letztlich Antworten im Stile der Auseinandersetzung des Hiob mit Gott (vgl. z.B. Röm 9,20–3; Hiob 10):Footnote 10
Es ist fast Wort für Wort die Antwort Hiobs, der sich Gedanken über die unerforschlichen Wege des jüdischen Gottes machen mußte.Footnote 11
Betz wie Arendt lesen Röm 7 als eminenten Beitrag zur Geschichte der Entdeckung des „inneren Menschen“ oder der „inner person“, wie Margaret E. Thrall ähnlich im Blick auf 2 Kor 4,16 sagt: „the ἔσω ἄνθρωπος is one's unseen personality, visible only to God and (in part) to oneself“.Footnote 12 In Röm 7 kommt noch etwas hinzu, was für das Thema meines Vortrags entscheidend ist. Denn hier beschreibt das „denkende Ich“, wie Arendt es nennt, wie es eine Entdeckungsreise in seine innere Welt unternimmt. Hier nämlich geschieht – und nun gehe ich über Betz’ oder Arendts Beschreibung hinaus – die nach innen gewendete Beobachtung des inneren Menschen im Sinne einer Selbst-Erforschung des „Ich“, die wir als Inspektion des inneren Ich (bes. Röm 7,14–5) oder eben als Introspektion bezeichnen können.Footnote 13
So ist auch die Konstruktion des introspektiven „Ich“ nicht erst ein Element der (hamartiologisch bestimmten) Gewissenserforschung, das mit Augustinus oder Luther aufgekommen wäre und von daher auf die Paulusinterpretation rückgewirkt hätte.Footnote 14 Das Thema der Selbsterkenntnis nimmt schon (Ps.-)Platon auf (Alkibiades 1,129b1ff.). Verschiedene Formen eines introspektiven „Ich“ begegnen bei Paulus wie auch in der antiken jüdischen Literatur (z.B. Philo, Leg. 182ff.; Josephus, Vita 10ff.) sowie in der hellenistisch-römischen, frühkaiserzeitlichen (z.B. Seneca, Ep. mor.; Marc Aurel) Welt. Ich erwähne hier zum einen, wie im „Second Temple Judaism“ „new models of moral selfhood“ entstehen, die verstärkt das „phenomenon of inner moral conflict“ in den Blick nehmen (z.B. Sir 15,15; 2 Bar 54,19; CD ii,15).Footnote 15 Zum anderen beschreibt Philo von Alexandria, der berühmte Zeitgenosse des Paulus, in seiner „Legatio“, wie er angesichts der unklaren Erfolgsaussichten seiner Mission seine inneren Gedankenspiele (ἐγὼ δὲ φρονεῖν … ἀνακινῶν τὸν ἐμαυτοῦ λογισμόν…, 182), mit denen er sich „herumschlug“, reflektierte, ohne dabei Tag oder Nacht Ruhe finden zu können (184).
Ein drittes Beispiel, das den nach innen gewendeten Denkvorgang zum Prinzip macht: Seneca fordert, sich von den Worten anderer unabhängig zu machen, um „in sich selbst hineinzusehen“ (… intus te ipse considera, Ep. mor. 80,10; vgl. z.B. auch Marc Aurel, 2,2). „Ziehe dich in dich selbst zurück“ (recede in te ipse …, Ep. mor. 7,8), so rät er dem Adressaten Lucilius. Ich komme auf Seneca später ausführlich zurück. Mit seiner Selbsterforschung liegt der stoische Philosoph nicht nur im intellektuellen „Trend seiner Zeit“. Auch ist er als Autor unter Nero ein wichtiger, wenn nicht: der wichtigste Zeitgenosse des Paulus – das gilt besonders für die Abfassung der Epistulae Morales, seines Alterswerkes.
In Röm 7 führt die nach innen gewendete Selbsterforschung des sprechenden und denkenden „Ich“, die Paulus mit dem οἶδα γὰρ … ἐν ἐμοί … (Röm 7,18) auf den Punkt bringt, zur Einsicht in das Dilemma des gespaltenen Willens (θέλειν). Dieses Dilemma ist existenziell, geht es doch mit dem Wissen um die Todesverfallenheit des Menschen (Röm 7,17.20) einher, die nach einem externen „Herausreißen“ aus dem „soma des Todes“ verlangt (Röm 7,24f.). Paulus beschreibt das denkende Ich in Röm 7 in all seinen Paradoxien und Aporien, ohne diese logisch-argumentativ auflösen zu können oder zu wollen (vgl. χάρις-Formel in Röm 7,25) – bis dahin, dass er die introspektive Selbstanalyse wie das denkende Ich selbst einer Kritik unterzieht (Röm 7,24f.).
Nun ist die paradoxale, ja aporetische Selbsterkundung des inneren Menschen bei Paulus nicht auf Röm 7 zu begrenzen. Ich möchte hier im Blick auf den Phil weiterarbeiten – einen Brief, den Betz wie Arendt in ihre Deutungen des „inneren Menschen“ und des denkenden oder selbst-reflektierenden Ich bei Paulus nicht mit einbeziehen. Auch wenn Betz’ Beurteilung: „Philippians shows no interest in the ἔσω ἄνθρωπος“,Footnote 16 lexisch und syntagmatisch zutreffend ist, so möchte ich in diesem Beitrag darlegen, dass die Konstruktion des introspektiven „Ich“, mit dem Paulus in Röm 7 die unlösbaren Dilemmata, Paradoxien und Aporien eines gespaltenen Willens beschreibt, in Phil 1 wiederkehrt – im Unterschied zu Röm 7 geschieht das in Phil 1 programmatisch in (auto-)biographisch verdichteter Form.
In Phil 1 beschreibt das denkende Ich, wie es seine innere Welt erforscht – auch hier findet diese Selbsterforschung in Hinsicht auf die existenzielle Auseinandersetzung mit dem individuellen Tod (Phil 1,20f.) statt. Im Unterschied zu Röm 7, wo Paulus den grundlegenden Zusammenhang von Sünde und Tod aufdeckt und als anthropologisches Dilemma deutet, unterliegt das Nachdenken des Paulus in Phil 1 den konkreten situativen Bedingungen seiner Gefängnishaft (schon Phil 1,7). In der Situation der Haft zeigt sich der Apostel zerrissen zwischen einer starken ἐπιθυμία, die sogar μᾶλλον κρεῖσσον verheißt (Phil 1,23), und dem πεποιθὼς οἶδα, das ἀναγκαιότερον ist (Phil 1,24f.).
In diesem Beitrag soll es also um die Interpretation der autobiographisch verdichteten introspektiven „Ich“-Rede gehen, die besonders Phil 1,21–6 prägt. Gerade dieser Textabschnitt, der sich in Hinsicht auf Rhetorik, Religionsgeschichte, Philosophie und politische Handlungstheorie als markant und vieldeutig erweist, hat in der jüngsten Phil-Forschung eine erhöhte exegetische Aufmerksamkeit erfahren.Footnote 17 Die verschiedenen Ansätze zur Beschreibung von Phil 1,21–6 zeigen durchaus Konvergenzen: Sie stellen den äußerst persönlich gehaltenen Redegestus des Paulus heraus, weisen auf die sozial-ethische Implikation und Funktion seiner Rede hin und decken die philosophisch gefärbte Sicht des Paulus beim Umgang mit dem Dilemma von Tod und Leben auf. Hier lässt sich eine kohärente, über die Betrachtung der AbfassungssituationFootnote 18 hinausreichende Deutung des paradoxalen inneren Dilemmas, das Paulus in 1,21–6 darlegt, anschließen.
Im Folgenden werde ich die Sicht auf das innere „Ich“, die Paulus in Phil 1–3 entwirft, als ideengeschichtlichen Beitrag zur Entwicklung eines „introspektiven Ich“ in Briefform verstehen. Ich werde zeigen, wie Paulus von Kapitel 1 zu Kapitel 3 eine paradoxale Dynamik biographisch-individualisierter „Ich“-Rede aufbaut. Zunächst richte ich den Blick auf Phil 1, wo Paulus im Wechsel von interaktiver und introspektiver „Ich“-Rede den Adressaten in Philippi seinen inneren Zwiespalt schildert: Obwohl Christus Leben und Sterben „Gewinn“ bedeutet (κέρδος, Phil 1,21), ist das fortdauernde Leben „im Fleisch“ (ἐν σαρκί, Phil 1,22) dennoch als „Frucht“ seiner Arbeit (καρπὸς ἔργου, Phil 1,22) zu verstehen. So besteht das persönliche Dilemma des Paulus darin, schon jetzt zu Christus kommen zu wollen und doch mutmaßlich physisch erst noch, auf unbegrenzte Zeit, am Leben zu bleiben. Paulus kann das Dilemma seiner Situation logisch-argumentativ nicht auflösen und lässt die Paradoxien der „Ich“-Erfahrung letztlich in die eschatologische Erwartung einer Transformation seiner selbst münden (Phil 3,20f.).
Im Vergleich mit der Selbst-Konstruktion Senecas in seinen Briefen wird deutlich werden, wie Paulus im Phil sein „Ich“ durch Selbstbeobachtung kultiviert. Mit der „Selbst-Kultivierung“ leistet der Apostel einen wichtigen Beitrag zur religiösen Individualisierung und philosophischen Subjektivierung in der frühkaiserzeitlichen Welt.Footnote 19
2. Die Konturen der paulinischen Introspektion in Phil 1–3
2.1 Interaktion und Introspektion in Phil 1
Das erste Kapitel des Phil ist von „Ich“-Rede und der Selbstdarstellung des Apostels geprägt. Nach dem eher kurzen Präskript (1,1–2), in dem Paulus und Timotheus gemeinsam als Absender des Briefes erscheinen und die Interaktion mit den Philippern formal in Gang setzen, wechselt Paulus bereits im Proömium bzw. der Eucharistie (1,3–11) in die „Ich“-Rede. Dem Apostel geht es einerseits darum, seine persönliche Verbundenheit mit den Adressaten (z.B. κοινωνία: 1,5.7) zum Ausdruck zu bringen. Andererseits sucht er, seine biographische Situation zu erläutern und zu deuten (1,7ff.).
Paulus befindet sich im Zuge seines Einsatzes für die „Apologie des Evangeliums“ (1,7.16) in Gefangenschaft. Die emotionale Nähe zu den Philippern (vgl. die Innerlichkeits-Semantik in 1,7ff.: καρδία, σπλάγχνα) und die Betonung der Gemeinschaft mit ihnen können in dieser Situation Zuversicht und gegenseitigen Trost vermitteln – auch diese Motive wurden in der Phil-Exegese vielfach beschrieben. Im Präskript und Proömium zeigt sich Paulus in persönlicher Interaktion mit den Briefadressaten in Philippi.
Mit einer disclosure formula leitet Paulus in 1,12 das eigentliche Briefcorpus ein. Er teilt eingangs vor allem seine Überzeugung mit, dass seine jetzige biographische Situation in Haft einschließlich der Ungewissheit über den Ausgang des Prozesses gegen ihn der προκοπή des Evangeliums dienen wird (1,12). Die „Freude“ des Apostels ist darin begründet, dass in jedem Fall – „auf verschiedene Weise, entweder unter Vorwand oder in Wahrheit“ – „Christus verkündigt“ werde (1,18).
In 1,18 kommt es zu einer ersten Zäsur: Paulus vollzieht den Übergang von der Beschreibung gegenwärtiger (χαίρω) zu zukünftiger Freude (χαρήσομαι) und entwickelt so eine Sicht auf das ihm prospektiv Bevorstehende. Dabei wechselt er von der kommunikativen Ebene des disclosure, das willensgeleitet ist (γινώσκειν δὲ ὑμᾶς βούλομαι …, 1,12), zur beschreibenden Reflexion seiner persönlichen Einsichten und Überlegungen (οἶδα …, 1,19).
In Phil 1,21 findet eine weitere Zuspitzung der persönlichen Rede statt. Das, was Paulus bevorsteht – sei es Leben oder Tod (1,20) – betrifft ihn unmittelbar selbst: sein σῶμα (1,20), seine Person (ἐμοί als dativus commodi: 1,21). Paulus teilt den Philippern in 1,21–6 seine zutiefst persönlichen Erwartungen und emotional gefärbten Hoffnungen, seine religiösen Sehnsüchte (ἐπιθυμία, 1,23) mit, bevor er in 1,27ff. in den kommunikativen Redegestus von 1,3ff. zurückkehren und in die ermahnende Rede (bis 2,18) eintreten wird. In 1,21–6 gewährt Paulus Einsicht in die Erforschung der Innenwelt seiner Person, in sein „inneres Ich“: Er legt dar, wie er seine innere Befindlichkeit im Modus der Introspektion erforscht (hat).
Der Apostel zeigt sich dabei, sich selbst beobachtend und erforschend, in einem inneren Zwiespalt (… ἐκ τῶν δύο …, 1,23a), der ihn förmlich beherrscht (συνέχομαι). Helmut Köster übersetzt: „ich bin von zweierlei beherrscht und dadurch wahrlich in einem Zwiespalt“.Footnote 20 Von der einen Seite sieht sich Paulus durch seine religiöse Sehnsucht getrieben, bei Christus sein zu wollen (allerdings ohne θέλειν – außer 2,13), von der anderen Seite seiner apostolischen Verantwortung verpflichtet, um der Gemeinde willen am Leben bleiben zu sollen (1,23b.24). Was er selbst wählen soll – so er denn die Wahl hätte –, weiß er nicht (… οὐ γνωρίζω: 1,22b).
Darin, dass Paulus sein persönliches Verlangen und sein biographisches Geschick einmal mehr dem Prinzip, die προκοπή des Evangeliums zu vermehren (1,25), unterordnet, exemplifiziert er die von ihm selbst angenommene Rolle als δοῦλος (1,1; s. auch 2,7) wie auch die praktische Übung der „Demut“.Footnote 21 Er tut dies, noch bevor er der Gemeinde die ταπεινοφροσύνη als ein an Christus orientiertes Ethos (2,3) vorstellt, das er anschließend ausführlich durch exempla konkretisiert (2,6–11; 2,19–24; 2,25–30).Footnote 22
2.2 Extrospektion und autobiographisches self-fashioning in Phil 2–3
In Phil 2 wechselt Paulus von der introspektiven Sicht auf das eigene Ich zum Modus dessen, was ich als „Extrospektion“ beschreiben möchte. Die Extrospektion richtet den Blick nach außen und erforscht dabei die Anderen. So ergänzt und erweitert der extrospektive Denk- und Sprechmodus die introspektive Konstruktion des „Ich“. Auch Seneca nutzt die Extrospektion zur Erkundung des/der Anderen, um so wiederum eine umso stärkere Nähe seiner Person zum Adressaten seines Schreibens herstellen zu können (inquiro de te et ab omnibus sciscitor …, quid agas … verba dare non potes: tecum sum…, Ep. mor. 32,1). Wenn Paulus in Phil 2 den Blick nach außen verlagert, so richtet er ihn auf Christus, Timotheus, Epaphroditus und immer wieder auch auf sich selbst (1,30; 3,17). Der Apostel sucht mit der extrospektiven Sicht auf andere und sich selbst, die brieflich vermittelte Gemeinschaft mit den Philippern weiter zu stärken.
Paulus ist grundsätzlich um das rechte πολιτεύεσθαι der Philipper besorgt (1,27). Doch die persönliche Fürsorge des Paulus allein kann in Zukunft nicht genügen – der Gemeinde müssen angesichts des möglichen Auftretens von Gegnern (3,2) oder „Feinden des Kreuzes Christi“ (3,18) zusätzliche Rollenmodelle vor Augen gestellt werden. Das geschieht im Modus der Extrospektion – von Paulus gezeigt zunächst an drei positiven Fallbeispielen, die durch den Hinweis auf sich selbst, d.h. das apostolische Vorbild, gerahmt werden (… εἴδετε ἐν ἐμοί, 1,30; συμμιμηταί μου … σκοπεῖτε, 3,17): (1) Das φρονεῖν der Gemeinde stellt Paulus als eine Henophronesis vor, die die innere Gemeinschaft (χαρά) mit dem Apostel stärken (2,1–3) und von der Orientierung an Christus ihren Ausgang nehmen soll (2,5). Darin (τοῦτο) liegt der Maßstab der kommunitären Phronesis. Das Beispiel Christi (2,6–11) ist in mehrfacher Hinsicht paradigmatisch – die Klimax liegt darin, den Gehorsam bis zum Tod am Kreuz gezeigt zu haben (2,8b–c). Die von Gott selbst gewirkte Erhöhung setzt erst bei der äußersten Erniedrigung im Tod an (διό, 2,9). Die Beschäftigung mit dem Tod, die schon die introspektive Selbsterforschung des Paulus in 1,21–6 veranlasste, begegnet erneut im Christus-exemplum – hier am Wendepunkt von ultimativer Erniedrigung zur kosmischen Erhöhung. (2) Auch am Beispiel des Timotheus (2,19–24) kann die Gemeinde lernen und Erkenntnis gewinnen (… γινώσκετε, 2,22): Im Unterschied zu vielen anderen hat Timotheus, der ἰσόψυχος mit Paulus ist (hapax legomenon in 2,20), nicht nach seinen eigenen Interessen gehandelt, sondern nach dem, was Christus entspricht, gesucht (2,21). Timotheus exemplifiziert somit das rechte σκοποῦντες, das Paulus zuvor von den Philippern als Gesinnung der ταπεινοφροσύνη verlangt hatte (2,4). (3) Mit dem Beispiel des Epaphroditus (2,25–30) kommt Paulus noch einmal auf das Motiv der Auseinandersetzung mit dem Tod zurück: Epaphroditus ist wegen des Werkes Christi nahe an den Tod herangekommen. Das Syntagma μέχρι θανάτου in 2,30 nimmt das, was Paulus über den Vorgang der Erniedrigung Christi gesagt hatte (2,8b), wieder auf. Epaphroditus war so krank, dass er dabei dem Tode nahe war (2,27a).Footnote 23 Gott aber hat sich seiner erbarmt (2,27b) – auch hier klingt 2,6–11, genauer: das Erniedrigungs-Erhöhungsschema von 2,8–9 wieder an. Dabei liegt in 2,27–30 der Fokus darauf, die Bedeutung des Wirkens des Epaphroditus für Paulus (2,25.27b) und für die Philipper (2,25–6.28–30) zu erkennen.
In Phil 2 soll also die extrospektive Sicht auf Christus, Timotheus und Epaphroditus den Philippern helfen, erkennend zu lernen, wie das kommunitäre „Gleichgesinntsein“ (Henophronesis), das Paulus den Philippern von 2,1ff. an im Rahmen von Ermahnung und Belehrung (seit 1,27ff.) vor Augen gestellt hatte, zu realisieren sei. Paulus teilt die extrospektive Sicht mit den Philippern und wird ihnen nicht zuletzt auch in der gemeinsamen Betrachtung der Vorbilder anderer wiederum selbst zum Beispiel, das nachzuahmen, zu imitieren ist (3,17).Footnote 24 Das gilt besonders in der Auseinandersetzung mit Gegnern.
Denn mit der polemischen Warnung vor „bösen Arbeitern“ (3,2) und den „Feinden des Kreuzes Christi“ (3,18) hält Paulus in Phil 3 die extrospektive Perspektive weiter aufrecht – nun ex negativo gewendet. Es gilt, die „Hunde“ und die „Zerschneidung“ zu sehen (βλέπετε), zu identifizieren und so enttarnen zu können (3,2).
Die Schilderung der eigenen Biographie (3,3ff.) steht wiederum im Kontrast zur Negativfolie möglicher Gegner und Opponenten. Der Apostel betreibt mit dem autobiographischen Schreiben self-fashioning (bes. 3,4–8),Footnote 25 um sodann erneut in den Modus der extrospektiven Selbstbeobachtung (3,12–16) einzutreten, in dem er das Dilemma seines Eiferns beschreibt, ohne schon das Ziel der „Erwählung von oben“ (ἄνω κλῆσις, 3,14) erreicht zu haben. Umso mehr bemüht sich Paulus darum, das βραβεῖον zu erlangen (Agon-Metaphorik).Footnote 26 Motivparallelen hierzu finden sich bei Seneca (Ep. mor. 12,9) unter Aufnahme von Vergil (Aen. 4,653; vgl. auch Seneca, Vit. beat. 19; Ben. 5,17,5; Horaz, Carm. 3,29,41).
Die extrospektive Sicht auf paradigmatische Vorbilder (2,6–30*) und auf Gegner (3,1ff.), die Paulus wiederum in einen Kontrast zu sich selbst stellt (3,4ff.), ergänzt die introspektive Einsicht, die Paulus in Kapitel 1 in seine innere Situation gewährt hatte. Beide Sichtweisen – die intro- wie extrospektive – werden durch das Motiv des Todes und der Todesnähe (2,8–30*) zusammengehalten. Das Todes-Motiv verknüpft die introspektive Selbsterforschung von Phil 1 mit der extrospektiven „Fremd“-ErforschungFootnote 27 in Phil 2–3. Der Aspekt der expectatio mortis ist für Phil 1–3 also insgesamt grundlegend (θάνατος κτλ. in 1,20.23; 2,8.27.30; 3,10) und soll im Folgenden näher untersucht werden.
2.3 Introspektion im Angesicht der Todesfurcht
Im Anschluss an die Konstitution der Interaktion mit den Philippern (1,1–11) stellt der Apostel seine biographische Situation und seine „Ich“-Erfahrungen dar (1,12–26). Die introspektive Sicht in seine innere Situation (1,21–6) bildet den Höhepunkt der persönlich gehaltenen „Ich“-Rede in Phil 1. Paulus legt sein persönliches Dilemma, das in seiner nach innen gewendeten Selbsterforschung sichtbar wird, in Paradoxien dar, die seine innere Zerrissenheit widerspiegeln (sollen). Das kommunikative, ja emotionale Verhältnis zu den Briefadressaten (… ὑμᾶς, 1,12; … πρὸς ὑμᾶς, 1,26) rahmt gleichwohl die persönliche Selbstdarstellung des Apostels.
Ein vertiefter vergleichender Blick auf Seneca und sein briefliches Konzept der Introspektion ist hier erhellend.Footnote 28 Denn die Konstruktion des „introspektiven Ich“ in Phil 1,22f., das seine Präferenzen und potentiellen Wahlmöglichkeiten (in der Situation der Gefängnishaft) zu erforschen sucht, ist als eine besonders intensive Form der Selbstwahrnehmung und -darstellung zu verstehen, wie sie sich auch in Senecas Briefen findet.
Die Selbsterforschung setzt gemeinhin beim Moment der allgemeinen Selbstbetrachtung an: So definiert Seneca „Gesundheit“ (vgl. etwa Ep. mor. 84,1) mit Hilfe verschiedener Pronomina als eine kongruente „Selbst“-Erfahrung. Die introspektive Selbsterforschung als besonders intensive Form der Selbstwahrnehmung geht als selbstgewählter Rückzug in sich selbst von statten (Ep. mor. 9,13). Das introspektive „Ich“ dient zugleich der Erforschung der eigentlichen Werte (introrsus bona tua spectent, Ep. mor. 7,12). Seneca lässt die Introspektivität immer dann sichtbar werden, wenn er – indem er seine selbst-beobachtenden Aktivitäten darlegt (observabo me protinus, Ep. mor. 83,2) – die maximale Konfrontation mit sich selbst in der Gegenwart sucht. Pierre Hadot hat diese „Ich“-Erfahrungen im Rahmen der geistigen Übungen der antiken Philosophie – so auch der Stoa – einmal wie folgt beschrieben:
Das Bewußtsein seiner selbst ist nichts anderes als das Bewusstsein eines Ich, das im gegenwärtigen Augenblick handelt und lebt.Footnote 29
Die moralphilosophischen und ethischen Implikationen dieser „Ich“-Bewusstmachung und -Erforschung liegen auf der Hand,Footnote 30 wie etwa die „Sorge um sich selbst“ (ἐπιμέλεια – vgl. schon (Ps.-)Platon, Alkibiades 1,129b).Footnote 31 Die Frage, die mich indes in diesem Beitrag weiter beschäftigt, ist: Wie, wann und warum kommt es zu der nach innen gewendeten, also introspektiven Erforschung und Beschreibung des inneren Ich? Dieser Vorgang lässt sich auch als nach innen gewendeter „Bewegungsablauf des denkenden Ich“ beschreiben.
Seneca bringt das introspektive Ich vor allem an den Stellen zum Einsatz, wo er die menschliche Innerlichkeit im Angesicht des Todes erforscht (sui amor est et permanendi conservandique se insita voluntas atque aspernatio dissolutionis…, Ep. mor. 82,15). Diese Form der „Selbst“-Erforschung dient der Überwindung des metus mortis, der Todesangst (vgl. etwa Marc Aurel, 4,5), die so stark ist, dass sie alle anderen Lebensstunden überschattet (Seneca, Ep. mor. 4,9). So ist die Selbsterforschung, um noch einmal mit Hadot zu sprechen, seit Platon und ähnlich auch bei den Stoikern als philosophische „Übung im Sterben“ zu sehen:
Bei dieser Übung ist das Ich völlig in die Gegenwart eingegrenzt.Footnote 32
Marc Aurel wird später in seinen „Selbstbetrachtungen“ mit sich selbst bzw. seiner „Seele“: ὑβρίζεις, ὑβρίζεις ἑαυτήν, ὦ ψυχή … (2,6) sprechen.Footnote 33 Es geht Marc Aurel in seiner Lebensphilosophie – so zuletzt von Alexander Demandt beschrieben –
um die innere Haltung zu den äußeren Gegebenheiten … Man denkt an einen Bildhauer, der ständig an sich selber arbeitet, um dem Ideal eines humanen Menschen näherzukommen.Footnote 34
Die „Selbstbetrachtungen“ enthalten kaum autobiographisches Material, sondern eher „Gedankengut“ aus angeeigneter „Schultradition“, das der „Selbsterziehung“ dienen soll.Footnote 35 Schon bei Seneca, dem das Motiv der Unterhaltung mit sich selbst keineswegs unbekannt ist (Ep. mor. 10,1), ist die introspektive „Ich“-Erforschung tendenziell a-historisch geleitet: Sie findet jetzt statt und entzieht sich weitgehend einer real-biographischen Zuordnung. Sie dient, in Auseinandersetzung mit Tod und Sterben, der Suche nach dem eigenen Ich und der Arbeit an der Frage, wer man selbst unabhängig von allen möglichen äußeren Zwängen ist.
Augustinus wird diese selbst-dialogische Selbsterkundung auf die Spitze treiben (… quaerenti memetipsum ac bonum meum …, Soliloquia 1,1). Doch bereits nach Seneca, der formal gesehen im brieflichen Dialog mit Lucilius verbleibt, muss man sich von den Worten Anderer unabhängig machen (Ep. mor. 80,10). Der weise Mann ist sich selbst genug (Ep. mor. 9,13.19) und sucht fortlaufend nach sapientia (Ep. mor. 65,18). Dabei erforscht er sich dauernd selbst (sapiens omnia examinabit secum …, Ep. mor. 81,10).Footnote 36 So ist der Weise den situativ verursachten Lebensbedingungen seiner Außenwelt entzogen. Das Selbstgespräch setzt freilich das Streben nach sapientia voraus, denn sonst würde die Unterhaltung mit sich selbst die Unterhaltung mit einem schlechten Menschen sein (cum homine malo, Ep. mor. 10,1).
Wie dann auch bei Marc Aurel ersichtlich (z.B. 4,5), geschieht die introspektive Erforschung des eigenen Ich bei Seneca im Zuge der Auseinandersetzung mit dem metus mortis (vgl. auch Augustinus, Soliloquia 2,1ff.; 2,23ff.). Der Philosoph sucht, sein inneres Wesen, ja sich selbst in besonderer Weise im Angesicht des Todes zu erforschen, um so die Todesangst zu beherrschen. Umgekehrt ermöglicht der Umgang mit der individuellen Todesangst erst die ultimative Selbstbetrachtung im Rahmen einer philosophischen Übung.
Bei Seneca führt die Auseinandersetzung mit dem metus mortis schließlich sogar zu einer Kritik der philosophischen Dialektik (bes. Ep. mor. 82):Footnote 37 Im Blick auf den Umgang mit der Todesfurcht – metus mortis/timor mortis (Ep. mor. 82,23) – wird für Seneca das philosophische Denken selbst zu einem kritikwürdigen Unternehmen.
Auch Paulus wählt den Modus der introspektiven Selbstbetrachtung in Phil 1 angesichts seiner persönlichen Todeserwartung. Ist auch er von Todesfurcht getrieben? Der Apostel weiß oder vermutet zumindest, dass er sterben wird, bevor sich die Parusie Christi ereignet (3,20; vgl. schon 1,10). Zwar fürchtet Paulus den Tod als solchen nicht, sondern deutet ihn als „Gewinn“ (κέρδος, 1,21). Umso mehr aber treiben ihn Ungewissheit und Sorge um: ‚Was wird mit ihm und seinen Gemeinden angesichts seines eigenen (bald) zu erwartenden Todes (1,20) geschehen? Darf er seiner persönlichen Christus-Sehnsucht nachgeben? Welche Wahlmöglichkeiten hat er (1,21–3)?‘
In der Situation der persönlichen expectatio mortis, die im Blick auf die autobiographische, real-historische Verdichtung von der stoischen Vorstellung des metus/timor mortis zu unterscheiden ist, kommt es bei Paulus zur Konstruktion des introspektiven „Ich“ und zur paradoxalen Beschreibung seines inneren Dilemmas (1,22f.). Die autobiographische Verdichtung in Phil 1–3 ist konstitutiv für den introspektiven Denk- und Schreibmodus, den Paulus wählt. Die introspektive Sicht auf die innere Zerrissenheit bringt letztlich die Aporien, mit denen das denkende Ich hier operieren muss, schonungslos zum Vorschein.
2.4 Autobiographisch individualisierte „Ich“-Erfahrung
Paulus unternimmt seine introspektive Selbstbetrachtung in Phil 1 im realen, historisch definierten Kontext der Gefängnishaft, über den er autobiographisch Auskunft gibt (1,12ff.). Zwar artikuliert sich auch Seneca in seinen Briefen als literarisch individualisierte persona. Seine philosophischen Fragen leitet er gleichwohl zumeist von bagatellartigen Beobachtungen zum alltäglichen Leben ab (vgl. etwa die Überlegungen zum Alter – angeregt durch die Beobachtung des eigenen Anwesens: Ep. mor. 12,1ff.), die kaum autobiographische Verdichtung aufweisen. Da die individuelle Person danach strebt, ein sapiens (Ep. mor. 71,26; 85,33ff.; 89,2; 90,13ff.) zu werden,Footnote 38 thematisiert Seneca in seinen Briefen die Differenz zwischen dem proficiens als dem, der auf dem Weg ist, und dem idealen sapiens. Im Blick auf das angestrebte „ideale Selbst“ („ideal self“)Footnote 39 des sapiens wird dann der Umgang mit dem Schicksal des eigenen Todes zum Gegenstand phänomenologischer oder generischer Überlegungen (z.B. Ep. mor. 66,43; 69,6).
Das Wissen um die mortalitas aller Dinge ist Allgemeingut (hoc unum scio: omnia mortalium opera mortalitate damnata sunt, inter peritura vivimus, Ep. mor. 91,12).Footnote 40 Der Einzelne repräsentiert, selbst in der persönlichen Frage des eigenen Todes (… mortem sibi…, Ep. mor. 70,12), bei der es gilt, das eigene fatum wählen zu können (O virum fortem…, cui fati daretur electio, Ep. mor. 70,21), immer nur die allgemeine Haltung des Menschen in der Konfrontation mit fortuna (Ep. mor. 70,13) und der expectatio mortis (Ep. mor. 70,9; 74,3).Footnote 41
Tugendhaft oder „gut“ zu sterben, ist nach Seneca das eigentliche Ziel der Belehrung über den Tod (bene autem mori est effugere male vivendi periculum, Ep. mor. 70,6). Denn der Tod ist nicht notwendig und – im Gegensatz zu Paulus, der den Tod entweder als „Sold der Sünde“ (Röm 6,23) oder als „Gewinn“ (Phil 1,21) beschreibt – ein malum (Ep. mor. 82,17),Footnote 42 sondern durchaus honesta … per illud, quod honestum est, id est virtus et animus extrema contemnens (Ep. mor. 82,14). So ist die Furcht vor dem Tod letztlich nicht mehr als die Furcht vor Gerüchten (sic mortem times quomodo famam, Ep. mor. 91,19). Im Tod sind die Menschen gleich (inpares nascimur, pares morimur, Ep. mor. 91,16). Nichts ist so schwer, dass es nicht ertragen werden könnte.
Seneca zeigt sich in diesen Überlegungen weder als autobiographisch individualisierte Person,Footnote 43 noch schafft er eine an historische Bedingungen gebundene realbiographische Identität – er bezweifelt tendenziell sogar deren Vorhandensein (84,10). Bei seiner Arbeit am „stoischen Selbst“ gibt er die traditionellen Rollenmodelle einer öffentlich wirksamen persona (vgl. Cicero, Off. 1) auf.Footnote 44 Wieweit die dementsprechende Selbstdistanzierung des historischen Autors im Text („self-effacement of the author“)Footnote 45 und die „Flucht aus der Zeit“,Footnote 46 die damit verbunden ist, im Rahmen der sog. „neronischen Literatur“ zu sehen sind,Footnote 47 kann ich hier nicht weiter diskutieren. Jedenfalls bleibt festzustellen, dass in Senecas Briefen die Mitteilungen des denkenden Ich über sich selbst und die Beschreibung der introspektiven Selbsterforschung eher historisch unspezifisch sind. Bei allen Überlegungen zum individuellen Tod und Sterben (z.B. Ep. mor. 70,6.15) würden autobiographische Befindlichkeiten das Streben nach dem summum bonum (Ep. mor. 71,2), das sich generell im steten Wissen um den Vorbehalt des Todes (tamquam migraturus habita, Ep. mor. 70,17) vollzieht, aus Sicht des Seneca nur behindern.Footnote 48
Anders Paulus in Phil 1: Der Apostel setzt in diesem Brief beim autobiographisch individualisierten „Ich“ des Gefangenen an, mit dem er seinem eigenen, persönlich zu erwartenden Tod entgegensieht (1,19ff.). In zweierlei Hinsicht wird deutlich, dass die biographisch individualisierte Sicht auf die expectatio mortis argumentationsleitend ist: Zum einen determinieren die konkreten situativen Umstände, wie Paulus spricht. Paulus präsentiert sich als Gefangener (1,7ff.): Der Apostel ist über den Ausgang seines Prozesses im Unklaren ist und muss mit seinem baldigen, gewaltsamen Tod rechnen. Gerade weil die persönlichen Lebensbedingungen den Aktionsradius des Apostels einschränken, geht es Paulus darum, seine bleibende Fürsorge für die Gemeinde deutlich zu machen und seine Überzeugung zum Ausdruck zu bringen, dass der Erfolg der Evangeliumsverkündigung – unabhängig von der Frage von Leben und Tod – letztlich feststeht (1,19f.).
Zum anderen beschreibt Paulus in Phil 1.3 seinen eigenen Leib (ἐν τῷ σώματί μου, 1,20) als den notwendigen, ja den konkreten religiösen Ort, an dem die Größe und Erhabenheit Christi sich zeigen.Footnote 49 Daher verleiht die Leidensbereitschaft, die Paulus selbst als individuelle Person aufbringt und dann auch von seinen Adressaten fordert (1,29f.), der eschatologisch geprägten Existenzbeschreibung zusätzliche autobiographisch individualisierende Züge.
Während Seneca davon ausgeht, dass die körperlichen Güter in totum non sunt bona (Ep. mor. 71,33), und so die auf Körperlichkeit beruhende Unterschiedlichkeit des Menschen soweit möglich ignorieren will (Ep. mor. 71,34), um den metus mortis zu besiegen (Ep. mor. 71,37; 80,5f.),Footnote 50 wird bei Paulus in Phil 1,20 das σῶμα μου (sonst: 1 Kor 13,3; Gal 6,17) zum notwendigen Ort autobiographisch individualisierter eschatologischer Ich-Erfahrung.Footnote 51 So werden in Phil 1.3 gerade die biographischen Besonderheiten des individuellen paulinischen Schicksals zum Gegenstand wichtiger autobiographischer BriefteileFootnote 52 und zum Ansatzpunkt introspektiver Selbst-Konstruktion.
2.5 Die Transformation des „Ich“ in Phil 3
In Phil 1 resultiert die introspektive Selbstbetrachtung des Paulus aus der eigenen Todeserwartung. Die Selbstbetrachtung ist persönlich formuliert, situativ und biographisch definiert und als individuelles Schicksal des Apostels stilisiert. Paulus legt im Rahmen seiner Selbsterkundung zugleich die Paradoxien, ja Aporien, in die er verstrickt ist, offen. Welche „Lösung“ sucht er für sein persönliches Dilemma und die Aporien seines Denkens?
In Phil 1–3 arbeitet Paulus mit einer doppelten Denkfigur: Zum einen wendet er in Phil 2–3 seine Aufmerksamkeit auf die extrospektive Betrachtung positiver Vorbilder (2,6–30*), möglicher Gegner und Opponenten (3,2.18) und – wiederum im Kontrast dazu – seines eigenen religiösen Werdegangs (3,4ff.) und Strebens (3,12ff.). So wird die introspektive Selbsterforschung um die extrospektive Sichtweise auf die Anderen und sich selbst ergänzt – dies dient der Stärkung der kommunitären Gemeinschaft nach innen und ihrer Abgrenzung nach außen.
Zum anderen zeichnet Paulus im Philipperbrief das Hoffnungsbild einer eschatologischen Transformation seiner selbst.Footnote 53 Paulus ist sich selbst – anders, als es Seneca über den Weisen sagt (z.B. Ep. mor. 9,13.19: se enim ipse contentus est) – nicht genug. In Phil 1–3 erhofft und erwartet Paulus für sich vielmehr eine so enge Gemeinschaft mit Christus, dass diese über eine Leidensgemeinschaft hinaus (Phil 3,10) zu einer Konformität mit Christus führt (Phil 3,21). Schon in Phil 1 bringt Paulus seine Überzeugung zum Ausdruck, dass – ganz gleich, ob durch Tod oder durch Leben – Christus an seinem Leibe „groß gemacht“ werde (1,20). Diese Hoffnung impliziert die eschatologische Erwartung einer Transformation: Paulus erwartet, in Hinsicht auf den Tod Christus gleichgestaltet zu werden (3,10), um so in die Teilhabe an seiner Auferstehung zu gelangen (καταντήσω, 3,11). So kann der Apostel schließlich auch im Blick auf das σῶμα τῆς δόξης der Gestalt nach Christus ähnlich werden (3,21). Paulus erwartet nichts weniger für sich als eine somatische, also vollständige Transformation seiner selbst zu Christus hin. Schon jetzt aber gilt, dass Christus „in ihm“ wohnt: ἐν ἐμοὶ Χριστός (Gal 2,20; ähnlich: Phil 1,21f.), also gleichsam die energetisch wirkende und wirksame Kraft in Paulus ist.Footnote 54 Zwischen dem „schon jetzt“ und dem „erst noch“ liegt eine weitere Spannung, die einmal mehr die paradoxalen Denk- und Sprachbewegungen des Paulus in Phil 1–3 bestimmt.
In der Konsequenz unterscheidet sich das eschatologische Denken des Paulus in Phil 1–3 von den Überlegungen, die der Apostel in früheren brieflichen Diskurszusammenhängen angestellt hatte (vgl. besonders 1 Thess 4f.; 1 Kor 15; 2 Kor 5): In Phil 1–3 macht die Erwartung der künftig noch ausstehenden vollständigen somatischen Transformation in das Schicksal Christi hinein den persönlichen Tod des Paulus – trotz unabsehbarer zeitlicher Perspektive – zur notwendigen Voraussetzung, ja Denkrichtung seiner Eschatologie (anders 1 Thess 4,17; 1 Kor 15,51).Footnote 55 Das aber bedeutet auch: Auf den Verzicht, der ἐπιθυμία nachzugeben, schon jetzt mit Christus in eschatologischer Vollendung zusammen zu sein (1,23), folgt erst noch die im zeitlich Ungewissen liegende, künftige Partizipation an der Auferstehung Christi (3,20f.), die zuvor erst eine Einwilligung in die Leidens- und Sterbensgemeinschaft mit Christus voraussetzt und „lohnenswert“ macht (3,10f.).
Seneca, der diejenigen „erbärmlich“ (miseri) nennt, die zwischen Todesfurcht und Lebensqual (… inter mortis metum et vitae tormenta …) hin- und herschwanken und weder leben wollen noch sterben können (Ep. mor. 4,5), würde die von Paulus gezeigte Haltung als Bereitschaft des proficiens, ja des sapiens verstehen, sich in das fatum einzufügen, um selbstbestimmt zu bleiben. Auch Paulus ist – und das ergibt die intro- wie extrospektive Selbst- und Fremderforschung in Phil 1–3 – zu allem bereit. Aus seiner Sicht bestätigt er mit dieser Haltung – selbst unter den Bedingungen seiner Haft – einmal mehr das credo seines Apostolats:
Wenn wir nämlich leben, leben wir dem Herrn; wenn wir sterben, sterben wir dem Herrn. Wenn wir also leben, wenn wir sterben, sind wir des Herrn. (Röm 14,9; vgl. auch 6,11 oder 1 Kor 3,23; 1 Thess 5,10).
3. Paulus und die Kultivierung des „Ich“
Abschließend werde ich meine bis hierher angestellten Überlegungen zu Phil 1–3 zusammenfassen und mit einem weiterführenden Gedanken schließen.
(1) Phil 1–3 sind insofern als eigenständiger Beitrag zur Entdeckung und Erforschung des „inneren Menschen“ neben Röm 7 zu lesen, als in Phil 1,21–6 Elemente einer nach innen gewendeten selbstbefragenden Selbsterforschung begegnen. Ich möchte diese Elemente als paulinische Form der introspektiven Selbsterkundung bezeichnen.
(2) Der Typus der Introspektivität, den Paulus in Phil 1 entwickelt und bis zum Schluss von Phil 3 weiterdenkt, ist – ähnlich der antiken philosophischen Selbsterforschung – erstens mit der expectatio mortis verbunden. Zweitens: Im Unterschied etwa zu den stoischen Selbsterkundungen blendet Paulus die biographischen Rahmenbedingungen seiner Selbstbefragung nicht aus, sondern macht die spezifische Situation seiner Haft zum Ausgangs- und Referenzpunkt seiner Selbstwahrnehmung. Hier liegt das subjektiv-(auto-)biographische Element der paulinischen Selbsterkundung.
(3) Die Konturen der paulinischen Selbsterforschung sind – wie bei Seneca auch – multiperspektivisch.Footnote 56 In Phil 1–3 lassen sie sich in vier Aspekten zeichnen: Sie umfassen (a) die Perspektive der Introspektivität (1,21–6), d.h. der nach innen gewendeten Selbstbefragung und -erkundung, und (b) die Perspektive der Extrospektivität, mit der Paulus positive Rollenvorbilder (2,6–30) wie Warnungen vor negativ gezeichneten möglichen Gegnern (3,2.18f.) im Sinne der Erforschung des/der Anderen entwirft. Dazu treten (c) die autobiographische narratio, also der rückblickende Selbstbericht, zum Zwecke des apostolischen self-fashioning (3,4–8), und (d) die gegenwärtige Selbstbeobachtung des eifernden Apostels, der seiner persönlichen eschatologischen Vollendung entgegensieht (3,12–16). Der Modus der extrospektiven Selbstbeobachtung, der den gegenwärtigen religiösen Eifer wie die Erwartung des Künftigen beschreibt, soll die Leser dazu anleiten, Paulus als τύπος zu imitieren (3,17).
(4) In Phil 1–3 sind die Konturen der paulinischen Selbsterforschung mehrdimensional – die Erkundung und Erforschung des eigenen „Ich“ ist so dynamisch. Sie geht gleichsam in verschiedenen Bewegungsabläufen von statten: nach innen, nach außen, zurück und auf die Gegenwart bzw. die antizipierte Zukunft hin. Die nach innen gerichtete, also introspektive Form der Selbsterkundung, führt zur eigentlichen Konfrontation des denkenden „Ich“ mit sich selbst im Angesicht der expectatio mortis und stellt so den konzeptionellen Höhepunkt der paulinischen Selbsterforschung (im Philipperbrief) dar.
(5) In Anlehnung an Michel Foucault möchte ich die oben genannten vier Aspekte, in denen sich in Phil 1–3 die Selbsterforschung des Paulus vollzieht, als „Kultivierung des Selbst“ (orig.: „La culture de soi“) beschreiben.Footnote 57 Mit dieser Beschreibungssprache bewege ich mich im Rahmen der gegenwärtigen antiken selfhood-Forschung,Footnote 58 die zuvor schon mehrfach angeklungen ist.
(6) Foucault u.a. sprechen – unter besonderem Verweis auf Seneca, Epiktet (z.B. Diss. 2,8,18ff.), Plinius (Ep. 1,9) oder auch EpikurFootnote 59 – davon, wie in der hellenistisch-römischen Welt die Kultivierung des Selbst je stärker voranschreite, je stärker die Privatisierung und Individualisierung des Lebens und der Rückzug aus dem öffentlichen Leben zunähmen. Das Thema des Rückzugs aus dem öffentlichen Raum spielt gerade in der frühkaiserzeitlichen Literatur in der Tat eine nicht unerhebliche Rolle (vgl. Quintilian, Inst. or. 12,11,1–30). Es führt – so Seneca – zu einer Art „Selbstgespräch“ (… ut ipse tecum loquaris, Ep. mor. 68,6; aber: otium sine litteris mors est et hominis vivi sepultura, 82,3; vgl. auch Plinius, Ep. 1,9). So schreibt Seneca seine Briefe, in denen er der Selbsterforschung besonders viel Raum und seinem (fiktiven oder realen) Leser damit Anteil an der Kultivierung dieses Selbst gibt, als Privatier – nicht mehr als Politiker. Der Rückzug aus der Öffentlichkeit muss – nach Seneca – selbstgewählt sein (Ep. mor. 9,13) und steht zusammen mit der Selbsterforschung im Dienst der Beschäftigung des Philosophen mit seiner Nachwelt (Ep. mor. 8,2.6). Lässt sich Vergleichbares über Paulus sagen?
(7.1) Wieweit Paulus bei der Kultivierung seines „Ich“, seiner selber oder seines Selbst in Phil 1–3 den öffentlichen Raum verlässt und so der (religiösen) Privatisierung Vorschub leistet, kann ich hier nicht weiter diskutieren. Mir scheint eher, dass sogar die introspektive, nach innen gerichtete Bewegung in Phil 1 an die Interaktion mit den Philippern, die tendenziell im öffentlichen Raum geschieht (vgl. auch Phil 1,20: … ἐν πάσῃ παρρησίᾳ), gebunden bleibt.
(7.2) Unbestreitbar ist, dass die Konturen der paulinischen Selbsterforschung als wichtiger frühkaiserzeitlicher Beitrag zur Individualisierung und Subjektivierung des Denkens zu bewerten sind: Wie selten sonst scheinen in Phil 1–3 die „individualistische Einstellung“ („l'attitude individualiste“) und die „Intensität der Selbstbeziehungen“ („l'intensité des rapports à soi“)Footnote 60 des Apostels durch – nicht zuletzt dann, wenn er seine persönlichen Dilemmata sowie die Paradoxien und Aporien seines Denkens offenlegt. Das eingangs zitierte Arendt'sche „denkende Ich“ lebt davon, dass der selbst-reflektierende Umgang mit der Ich-Erfahrung letztlich unversöhnlich und unlösbar ist, ja paradoxal bleibt.
Auch wenn das Pathos des Jacob Burckhardt, dessen 200. Geburtstags kürzlich gedacht wurde, der postmodernen Erforschung der antiken Welt befremdlich erscheinen mag – auch für Paulus könnte in Abwandlung gelten, was der Baseler Historiker über die „großen Dichter“ als bedeutende individuelle Leistungsträger in der Geschichte sagte:
… vollends aber bilden sie … die größte zusammenhängende Offenbarung über den innern Menschen überhaupt.Footnote 61