1. Einführung in die Frage- und Problemstellung
1.1 Die δοῦλος-Rolle als Selbsttitulatur
In Gal 1,10, Röm 1,1 und Phil 1,1 bezeichnet sich Paulus als δοῦλος Χριστοῦ (Ἰησοῦ). Diese Bezeichnung ist auffällig und interpretationsbedürftig. In der Paulusexegese wird die epistolare Selbsttitulatur des Paulus als „Sklave Christi“ oftmals nur in Unterscheidung zum „Aposteltitel“, den Paulus in der korinthischen Korrespondenz verwendet, verstanden.Footnote 1 Doch in Röm 1,1 tritt schon in der superscriptio der δοῦλος-Titel dezidiert neben den ἀπόστολος-Titel und zeigt an, dass Paulus seine Rollenkonfiguration weiter ausarbeitet und spezifisch formt. Im Präskript des Phil wird sich Paulus sogar gänzlich auf die δοῦλος-Titulatur beschränken (Phil 1,1) und – mit der Bildung einer solchen antonomasia Footnote 2 – in der späteren frühchristlichen Briefliteratur Nachfolger finden (z.B. Jak 1,1). In den juristischen Arbeiten zu Paulus und dem antiken Recht, die aus sehr unterschiedlichen Perspektiven, z.B. von Francis Lyall oder Dieter Nörr, vorgelegt wurden, wurde wiederum die Selbsttitulatur des Paulus als Sklave nicht eigens interpretiert,Footnote 3 obwohl neben den Themen Adoption und Bürgerrecht gerade das Thema Sklaverei in den paulinischen Briefen dem römischen Rechtskontext zugeordnet wurde.Footnote 4 Welche Funktion kommt dieser Rollenübernahme zu, die an den drei genannten Stellen in Gal, Röm und Phil syntagmatisch leicht variiert,Footnote 5 d.h. von Paulus tendenziell sprachlich flexibel gestaltet und so jeweils kontextbezogen angepasst wird?
Dass Paulus für sich programmatisch die δοῦλος-Bezeichnung verwendet, ist einerseits deswegen nicht verwunderlich, weil er in sozio-politischen Umständen lebt, die als ‚sklavistisch‘ bezeichnet oder als Sklavenhaltergesellschaft gekennzeichnet werden können.Footnote 6 Paulus ist daher mit der Sklaverei im jüdischenFootnote 7 wie im griechisch-römischen Kontext als sozialhistorischer Realität bestens vertraut. Andererseits ist der Umfang an antiken literarischen Quellen, die Sklaverei nicht nur benennen, sondern explizit problematisieren, verhältnismäßig begrenzt.Footnote 8 Die Institution der Sklaverei ist so selbstverständlich, dass man sie „nicht eigens thematisieren muss“.Footnote 9 So ist es zwar nicht außergewöhnlich, aber doch bemerkenswert, dass sich Paulus dieser eher inferioren Rollenkonfiguration in programmatischer Weise, ja gleichsam als ‚Berufsbezeichnung‘,Footnote 10 bedient. Leistet der Apostel, der sich andernorts auf seine besondere persönliche Legitimierung beruft (z.B. 1 Kor 15,8f.; 2 Kor 12; Gal 1–2; Röm 1,1–7), damit einen eigenständigen Beitrag zum antiken Sklavereidiskurs?Footnote 11 Die Beobachtungen, die in diesem Beitrag angestellt werden, legen eine Bejahung dieser Frage nahe.
1.2 Der sozio-historische Kontext
Beginnen wir mit der Betrachtung der historischen Umstände, mit denen Paulus konfrontiert war: Wie hoch genau der Anteil an Sklaven, also „Unfreien“ unter den Mitgliedern in den paulinischen Gemeinden war, lässt sich nur schätzen. Die sozialgeschichtliche Forschung geht gemeinhin von einer sozialen Schichtung aus, bei der die „überwiegende Mehrheit… zur Unterschicht, d.h. zu den relativ Armen bzw. relativ Wohlhabenden“, zu rechnen ist. Viele „waren Sklaven oder Freigelassene“.Footnote 12 Allerdings wäre es wohl verfehlt, sich Sklaven und Freigelassene als überwiegend bedürftig vorzustellen. Typisch ist vielmehr, dass Sklaven (und Freigelassene) die wirtschaftliche Lage ihres Herrn teilen, was zum Beispiel die relativ große Anzahl wohlhabender Freigelassener erklärt, die vor allem in Inschriften bezeugt sind.Footnote 13 Petronius wiederum karikiert, wie ein ehemaliger Sklave seine komfortable Lebenssituation in geschmackloser Weise ausnutzt (Sat. 26.7 bis 79 [cena Trimalchionis]).
Besonders in 1 Kor und Phlm ist Paulus mit der realen Situation von Sklaven befasst. Von dieser realen Beschäftigung mit den Lebensbedingungen von Sklaven einerseits ist bei Paulus andererseits eine metaphorische Redeweise zu unterscheiden, in der die Sklaverei-Semantik tendenziell negativ konnotiert ist. So spricht Paulus von der Versklavung ‚unter die Sünde‘ (Röm 6,17), stellt dieser zugleich aber einen Sklavendienst gegenüber, der auf den Gehorsam vor Gott zielt (Röm 6,16f.). Innerhalb der uneigentlichen Redeweise ist dann dritterseits die programmatische Selbsttitulatur des Paulus als δοῦλος Χριστοῦ Ἰησοῦ zu verorten, um deren Interpretation es im Folgenden geht. Hierbei wäre am ehesten von einer uneigentlichen Begriffsverwendung im Sinne der rhetorischen improprietas mit der Funktion der Bildung einer antonomasia zu sprechen,Footnote 14 denn Paulus ist weder im literalen Sinne jemandes „Sklave“, noch handelt es sich bei δοῦλος um bildhafte, also metaphorische Rede.Footnote 15 Vielmehr konzipiert Paulus sein Christus-Verhältnis so, dass es im realen Kontext römischer Rechts- und Sozialvorstellungen plausibel wird. Welches Selbstverständnis als Apostel gibt Paulus mit der Wahl dieser Selbsttitulatur, die wie ein im griechischsprachigen Osten anzutreffender Vatersname verwendet wird,Footnote 16 zu erkennen? Welches Rollenverständnis entwickelt Paulus? Wie lässt sich dieses Rollenverständnis – im Lichte des antiken römischen Rechts – plausibilisieren? Führt es zu einem inferioren Selbstverständnis? Welche Handlungsspielräume eröffnet es für den Apostel?
Dass die Selbstbezeichnung als δοῦλος keine literale, sondern eine uneigentliche Bedeutung „zur Setzung eines Appellativs“Footnote 17 hat, liegt aus zwei Gründen nahe: Erstens gehörte Paulus – sozialgeschichtlich betrachtet – nicht dem Sklavenstand an, selbst wenn erst sein Vater das Bürgerrecht aufgrund einer Freilassung (iusta manumissio) aus der Kriegsgefangenschaft erhalten haben sollte.Footnote 18 Zweitens handelt es sich beim Genitivobjekt Χριστοῦ (Ἰησοῦ) um eine christologische Hoheitsbezeichnung für eine nicht-immanent wirksame kyrios-Gestalt. Paulus ordnet sich selbst also im Blick auf das Genitivattribut gerade keinem irdischen Haushalt zu. Als uneigentliche Redeweise ist die Selbstbezeichnung des Paulus als δοῦλος Χριστοῦ gleichwohl rollenbildend.Footnote 19 Sie dient dem self-fashioning des Apostels und erscheint nicht zufällig programmatisch in den Briefanfängen dreier Briefe, nämlich in unmittelbarer Nähe zum Proömium im GalFootnote 20 bzw. bereits in der superscriptio des Präskripts in Röm und Phil. Paulus verbindet und entwickelt im Laufe seiner brieflichen Korrespondenz mit dieser Selbstbezeichnung ein genuines Rollenverständnis, das seinen Namen ergänzt bzw. wie eine Antonomasie an die Stelle seines Namens Παῦλος treten kann und die Frage aufwirft, welche Sicht der Apostel selbst auf die Institution der Sklaverei hatte und prägte.
1.3 Zur Bedeutung der δοῦλος-Lexik bei Paulus
In der Paulusexegese wird die Bedeutung der δοῦλος-Lexik bei Paulus gemeinhin entweder traditionsgeschichtlich,Footnote 21 motivgeschichtlich,Footnote 22 sozialgeschichtlichFootnote 23 oder im Verhältnis zum moralphilosophischen Diskurs der Zeit (z.B. Philon; Epiktet; Seneca; Dion von Prusa)Footnote 24 erschlossen.Footnote 25 Dabei steht einerseits die Frage im Vordergrund, wie die paulinische δοῦλος-Semantik durch Septuaginta-Sprache und -Motivik vorgeprägt ist (Traditions- und Motivgeschichte). Weiterführende Fragen zur Textinterpretation schließen sich an: In welcher Weise knüpft Paulus mit dem δοῦλος-Attribut für Christus (Phil 2,7) an die Gottesknechtsvorstellung in Deuterojesaja (Jes 52–53) an?Footnote 26 Und wieweit lehnt sich dann die δοῦλος Χριστοῦ Ἰησοῦ-Selbsttitulatur, die Paulus in Phil 1,1 (und schon Röm 1,1) wählt, an die prophetische Vorstellung (vom Gottesknecht) an,Footnote 27 so dass sie in Reziprozität zu Phil 2,7 zu sehen und – in Kombination mit der ταπɛιν-Semantik – aus der Septuaginta herzuleiten ist?Footnote 28 Andererseits wird diskutiert, wie sich Paulus zur Institution der Sklaverei als sozialer Realität in der frühen römischen KaiserzeitFootnote 29 selbst verhält (Sozialgeschichte):Footnote 30 Stützt er die Sklaverei, wenn er für sich selbst den δοῦλος-Titel annimmt,Footnote 31 oder sucht er sich mit der Übernahme der δοῦλος-Rolle mit den Sklaven und Sklavinnen in seinen Gemeinden solidarisch zu erklären (vgl. 1 Kor 9,19–23)? Dritterseits lassen sich Umgang und Einstellung des Paulus mit/zu der Sklaverei in den Kontext der moralphilosophischen Diskurse seiner Zeit stellen (Philosophie):Footnote 32 Trägt Paulus mit seiner Rede von der Sklaverei zur Konzeption einer ‚moralischen Sklaverei‘ bei, die – so wie bei Cicero (Parad. 35) oder Seneca (Benef. 3,18,2) sichtbar – letztlich zur Relativierung und Marginalisierung des Sklavendienstes in der antiken Welt führt?Footnote 33
1.4 Der Deutungsrahmen des römischen Rechts
Der vorliegende Beitrag soll den Interpretationsrahmen um einen in der bisherigen Paulus-Forschung eher vernachlässigten Aspekt erweitern, wenn er den Deutungskontext des römischen Rechts aufruft,Footnote 34 der in der Paulusexegese lange nicht und auch früher nur am Rande berücksichtigt worden ist, obwohl das römische Recht mit Sicherheit zur Lebenswelt des Paulus zählte.Footnote 35 Hier scheint in der Forschung immer noch die Vorstellung nachzuwirken, dass Paulus aufgrund seiner Herkunft zwingend und ausschließlich jüdischen Rechtsvorstellungen angehangen habe,Footnote 36 wenngleich bereits in früheren Arbeiten herausgearbeitet worden ist, dass eine Untersuchung der „Rechtsanschauungen [des Paulus; Verf.] besonderer Maßstäbe bedarf, die die drei Faktoren seiner jüdischen Religionszugehörigkeit, seiner Herkunft aus… Tarsus und seines römischen Bürgerrechts berücksichtigen müßten.“Footnote 37
Für die Selbstdefinition als Sklave ist gerade das römische Recht von besonderem Interesse, weil es – in Abkehr vom griechischen Recht der Sklaverei – eine „stringente Theorie entwickelt (hat), die… als eigenständiger antiker Sklavereidiskurs bezeichnet“ werden kann.Footnote 38 Vor dem Hintergrund des antiken römischen Rechts nämlich, das – als „common factor“ wirkendFootnote 39 – in erster Linie die pragmatisierte RechtsauffassungFootnote 40 in den Blick nahm und weniger die sozialgeschichtliche Realität von Sklaven oder die moralphilosophische Einstellung zur Sklaverei problematisierte, lassen sich bestimmte Aspekte des paulinischen Selbst- und Apostolatsverständnisses noch einmal schärfer fassen. Denn im römischen Rechtsdiskurs, der durch das ius gentium als ‚Recht aller Menschen‘ (Gaius 1,1) universale Anwendung, d.h. auch Beachtung durch Nichtrömer bzw. den peregrinus findet,Footnote 41 wird auch der Handlungsspielraum für Sklaven im Verhältnis zu ihren „Herren“ dadurch konzeptionell bestimmt, dass die „Menscheneigenschaft des Sklaven“ Berücksichtigung findet.Footnote 42
Das erste sichtbare Zeichen dieser Auffassung ist, dass auch römische Bürger (durch fremde Völker) versklavt werden können und als Folge auch nach römischem Recht ihren Status verlieren. Im Rahmen dieser capitis deminutio maxima werden dem Kriegsgefangenen seine Freiheit (status libertatis), sein Bürgerrecht (status civitatis) und seine Familienzugehörigkeit (status familiae) aberkannt.Footnote 43 Allerdings ist – und auch das zeichnet die Konzeption der Sklaverei nach römischem Recht aus – der Verlust dieses Status nicht definitiv; vielmehr kann der Rückkehrer wieder in seine Freiheit, sein Bürgerrecht und seine Familienposition restituiert werden.Footnote 44 Aber auch der als Sklave Geborene und der in Rom versklavte Nichtrömer können nach Anschauung der römischen Juristen auf eine Freilassung (manumissio) hoffen, wobei das römische Recht – im Gegensatz zum griechischen Rechtskreis – die Besonderheit aufweist, dass die ordnungsgemäß freigelassenen Sklaven zu römischen Bürgern werden, und damit alle Rechte des civis Romanus erhalten.Footnote 45
So erschließen sich im Deutungsrahmen des antiken römischen Rechts besonders jene Sinnlinien im paulinischen self-fashioning als δοῦλος Χριστοῦ Ἰησοῦ, die ebendiese Selbstbezeichnung in Unterordnung unter Christus als Ermöglichung von Ambition, Eifer, Ehre und Erfolg zu erkennen geben. Diese Aspekte umfassen im Einzelnen (1) die paulinische Statusbeschreibung sowie die Legitimierung und Darlegung seines (2) Verhältnisses zum „Herrn“, die Beschreibung (3) seiner Arbeits- und Aufgabengebiete und seiner (4) sozio-ökonomischen Lebensbedingungen und Lebensformen. Wir legen im Folgenden den Deutungsrahmen des römischen Rechts so an, dass verschiedene Möglichkeiten, die der Bedeutung des δοῦλος Χριστοῦ Ἰησοῦ-Syntagmas für das paulinische Selbstverständnis zukommen können, sichtbar werden. Aus der Deutung des paulinischen δοῦλος-Titels im Lichte des römischen Rechts ergeben sich dabei schließlich derart weiterführende Sinnlinien, die diese Selbstbezeichnung nicht allein, vielleicht noch nicht einmal primär als Ausdruck von Inferiorität oder humilitas deuten,Footnote 46 sondern vielmehr das Selbstbewusstsein sowie die Aufstiegschancen und Erfolgsaussichten des Apostels in unbedingter Dienstbarkeit spiegeln und als Ermöglichungsraum für die Ausführung seiner Arbeit darstellen.Footnote 47 Diesen vier Aspekten, die in den genannten Briefen (Gal, Röm, Phil) noch einmal jeweils spezifisch konnotiert sind und so von Paulus in jeweils eigener Weise konzeptionell profiliert werden, gehen wir im Folgenden (s.u. 2.2–2.5) nach.
2. Aspekte paulinischen Selbstverständnisses als δοῦλος Χριστοῦ Ἰησοῦ im Lichte des antiken römischen Rechts
2.1 Der Ansatzpunkt in der Forschung – die These
Richard Gamauf hat kürzlich in seinem Beitrag „Sklaven (servi)“ im „Handbuch des Römischen Privatrechts“ das Wissen zum römischen Sklavenrecht zusammengetragen und so auf den neuesten Stand gebracht.Footnote 48 Diese Darstellung lässt sich auch für die neutestamentliche Exegese fruchtbar machen. Der vorliegende Beitrag wertet die enzyklopädische Aufbereitung des (römischen) Quellenmaterials durch Gamauf aus und wendet sie auf die Interpretation der δοῦλος Χριστοῦ Ἰησοῦ-Aussagen vorzugsweise in Gal, Röm und Phil an.Footnote 49 Dabei wird sich zeigen: Die programmatische Selbstbezeichnung des Paulus mit Hilfe des Syntagmas δοῦλος Χριστοῦ (Ἰησοῦ) einerseits, die rechtlichen Implikationen, die mit dem „Sklaven“-Status und der Aufgabenbestimmung der Sklaven in der römischen Welt verbunden und insbesondere im Rahmen des ius gentium geordnet sind, andererseits sowie die briefliche Kontextualität, in der das Syntagma in den einzelnen Schreiben zu stehen kommt, dritterseits bilden in Gal, Röm und Phil einen konstitutiven Bedeutungszusammenhang, der bei der Interpretation der Einzelverse in Gal 1,10, Röm 1,1 und Phil 1,1 und ihrer Einbindung in den jeweiligen brieflichen Makrokontext zu berücksichtigen ist.
Die Frage, ob und inwieweit sich aus der Interpretation der paulinischen δοῦλος Χριστοῦ Ἰησοῦ-Selbstbeschreibung im Lichte des antiken römischen Rechts auch eine zumindest partielle Vertrautheit des Apostels mit dem römischen (Privat-)Recht ableiten lässt, werden wir abschließend nur kurz streifen können (s. 3.). Es fällt jedenfalls auf, dass Paulus Vertrautheit mit der griechisch-römischen Institution der Sklaverei in hellenistischer Zeit zeigt. Während die traditionelle israelitisch-jüdische Vorstellung weder einen spezifischen Begriff für „Sklave“ kannte noch klar zwischen Sklaven- und Frondienst unterschied,Footnote 50 weil – wenn überhaupt – die Sklavenquote in Israel „relativ niedrig, unter 10%“ war,Footnote 51 kam es in hellenistischer Zeit durch Eroberungskriege zu gegenseitiger Versklavung (Judit 7,27; 8,22). Dieser Assimilationsprozess schlägt sich wiederum sowohl semantisch als auch motivisch in den Schriften der Septuaginta nieder, in denen nun die gängige griechische Sklavenlexik Verwendung findet (δοῦλος/δούλη, παῖς/παιδίσκη) und sich die sozialen Verhältnisse – so z.B. auch in Form einer „S(klaven)haltermentalität“ – spiegeln (vgl. z.B. Sir 33[30],25–32[33–40]).Footnote 52 Mit seinen Vorstellungen von Sklaverei bewegt sich Paulus daher in einem gemein-hellenistischen Erfahrungsbereich, der mit der Expansion der Römer in der vorderasiatischen Welt im 1. Jh. v.Chr. durch das ius gentium eine völkergemeinschaftliche Ordnung erfuhr.Footnote 53 Zur „daily life“-Erfahrung zählten dabei auch ambivalente Deutungen der Sklaverei im jüdischen und griechisch-römischen Kontext – insbesondere im Blick auf die Statusbeschreibung eines Sklaven.Footnote 54 Der Diskursrahmen war also dynamisch.
Dieser Beitrag zielt nun vornehmlich darauf aufzuzeigen, wie den Rezipienten der Paulusbriefe in Galatien, Rom und Philippi die δοῦλος Χριστοῦ Ἰησοῦ-Rolle des Briefabsenders im Kontext römischer Rechtsvorstellung plausibel erscheinen konnte und zum tieferen Verständnis der Rollenbeauftragung des Paulus als „Apostel Jesu Christi“ beitrug. Wir rechnen dabei damit, dass die δοῦλος Χριστοῦ Ἰησοῦ-Selbstaussage des Paulus weitere, etwa durch die Septuaginta-Sprache geprägte Motive und Vorstellungen aufruft und entsprechende Sinnlinien herstellt (s.o.). Traditions- oder motivgeschichtliches Arbeiten bleiben daher auch weiterhin nötig. Gleichwohl legt dieser Beitrag seinen Fokus auf die Deutung des δοῦλος Χριστοῦ Ἰησοῦ vor dem Hintergrund des antiken römischen Rechts. Denn es waren vornehmlich die (römischen) Juristen, die die Sklaverei als Institution des ius gentium, also des Völkergemeinrechts, und gerade nicht des ius naturale verstanden.Footnote 55 Dafür steht beispielhaft D. 1,5,4 Florent. 9 inst. Der Text zeigt, dass dem Juristen des 2. Jh. die aus dem Verstoß gegen die libertas abgeleitete Widernatürlichkeit der Sklaverei bewusst ist. Als Institut des ius gentium muss sie aber hingenommen werden.Footnote 56 Das ‚Völkergemeinrecht‘ entspricht also der Praxis der Völker, die durchaus tauglich ist, den Naturzustand, den das ius naturale in der empirisch orientierten Sicht der römischen Juristen abbildet, zu verändern.
Auch Paulus pflegte – wie in der Forschung vielfach festgehalten wurdeFootnote 57 – einen äußerst unkritischen Umgang mit der Sklaverei. Er problematisierte das Verhältnis von „Freien“ und „Sklaven“ (z.B. 1 Kor 12,12) und besonders den sozialen Status der Sklaven in den Gemeinden letztlich höchstens insoweit (z.B. 1 Kor 7,21ff.; Phlm), dass weder ‚soziale Störungen‘ nach außen noch innerhalb der Gemeinde riskiert wurden.Footnote 58 Grundsätzlich legitimierende Überlegungen zur Institution der Sklaverei äußerte Paulus ebenso wenig wie eine substanzielle Kritik. Gleichwohl stand ihm die Sklaverei konkret vor Augen (s.o.). Wie ist diese wenig profilierte Sicht des Paulus auf die Sklaverei zu verstehen? In welcher Weise lässt sie sich in die dynamische Debattenkultur hellenistisch-römischer Zeit einordnen? Dieser Beitrag versucht insofern eine ‚neue‘ Paulusdeutung, als er den erkennbaren pragmatischen Umgang des Paulus mit der Sklaverei, einschließlich der Wahl der Selbsttitulatur als δοῦλος, auf einen breiten hellenistisch-römischen Rechtsdiskurs zurückführt, der Paulus eine reiche Vorstellungswelt und ein vielfältiges Motivinventar zur Gestaltung seiner δοῦλος-Rolle geboten hat.
2.2 Zur Herleitung, Begründung und Beschreibung des δοῦλος-Status
In der römischen Rechtsvorstellung gibt es – anders als etwa in der griechischen Welt – keine Vorstellung von einer Zwischenstufe zwischen „Sklaven“ und „Freien“ (Rn. 2–3).Footnote 59 Dieser Umstand scheint auch Paulus bekannt, wenn er in Gal 3,28 in einer kurzen Reihe binärer Gegenüberstellungen den „Sklaven“ vom „Freien“ unterscheidet (… οὐκ ἔνι δοῦλος οὐδὲ ἐλɛύθɛρος…)Footnote 60 und ein tertium nicht kennt. Dieser Logik zufolge kann Paulus sein eigenes Subordinations- bzw. Dienstverhältnis zum κύριος Jesus Christus gar nicht anders als in der Selbstbeschreibung als δοῦλος zum Ausdruck bringen. Damit ist zweierlei impliziert: Paulus erkennt Christus erstens unbedingt als seinen „Herrn“ (κύριος/dominus) an, dem er dienend verpflichtet ist. Dieser Herr hat somit vollständige und uneingeschränkte Verfügungsgewalt über die Person des Paulus (s.u.). Zweitens: Paulus ist nicht „frei“, d.h. er ist bereits einem Haushalt fest zugeordnet und verpflichtet. Das heißt aber auch: Er arbeitet – genauso wie die Hauskinder, die unter der Hausgewalt des Vaters stehen – nicht auf ‚eigene Rechnung‘. Alles, was er erarbeitet, gehört vielmehr seinem „Herrn“ (z.B. 1 Kor 1,9.19). Diese Sinnlinie des δοῦλος Χριστοῦ (Ἰησοῦ) lässt sich in allen drei Briefen – Gal, Röm und Phil – gleichermaßen wiedererkennen (vgl. Gal 1–2; Phil 1,18–21; Rom 14,7–8).
Damit zusammenhängend ergibt sich die vielleicht wichtigste Folgerung: Paulus spricht für den Herrn. Er kann ihn – genau wie ein Hauskind oder Sklave – ‚vertreten‘, indem zum Beispiel die Erklärungen, die er für den Herrn abgibt, diesem zugerechnet werden. Als Sklave spricht Paulus niemals für sich selbst, sondern immer für den ihm übergeordneten Herrn. Dies entspricht den auch in der römischen Rechtsliteratur überlieferten Urkunden, in denen der als Geschäftsführer tätige Sklave (servus actor) für seinen Herrn Erklärungen abgibt und entgegennimmt. Das plastischste Beispiel bildet D. 45,1,126,2 Paul. 3 quaest.: „Chrysogonus Flavii Candidi servus actor scripsit, coram subscribente et adsignante domino meo …“ („Chrysogonus, des Flavius Candidus Geschäftsführer, hat geschrieben, in Anwesenheit des Unterzeichnenden und auf Anweisung meines Herren…“).Footnote 61 Entscheidend ist dabei, dass eine sog. ‚direkte Stellvertretung‘Footnote 62 durch freie Personen – mit Ausnahme der Hauskinder – nach römischem Recht nicht möglich war.Footnote 63 Erst der Einsatz von Sklaven ermöglichte es dem Herrn, an verschiedenen Orten mit unmittelbarer Wirkung für sich Geschäfte führen zu lassen. So konnten Sklaven auch als Schreiber von (Geschäfts-)Briefen agieren (vgl. z.B. TPSulp. 48, TPSulp. 61, TPSulp. 65).Footnote 64 Ciceros Werken lässt sich im Detail entnehmen, wie Sklaven im Haushalt eingesetzt wurden.Footnote 65
Zu beachten ist weiter, dass sogar Personenvereinigungen, wie Städte oder Vereine, durch Sklaven ‚vertreten‘ werden konnten, sofern der Sklave zur Stadtkasse (servus publicus)Footnote 66 oder zum Vereinsvermögen (servus communis) gehörte, während eine direkte Vertretung durch die Funktionsträger der Stadt oder des Vereins nicht möglich war.Footnote 67 Paulus übernimmt, so gesehen, eine doppelte Stellvertreterrolle: einerseits für seinen ‚Herrn‘, andererseits für die ihm unterstehenden Gemeinden.Footnote 68 Dazu fügt sich, dass der römische Jurist und Kirchenvater Tertullian die christlichen Gemeinden später mit den römischen collegia vergleicht.Footnote 69
Gamauf weist darauf hin, dass es in der römischen Jurisprudenz zu einer sprachwissenschaftlich jedenfalls nicht eindeutigen etymologischen Herleitung des servus-Begriffes gekommen ist,Footnote 70 die dessen Rollenzuschreibung faktisch ideologisiert: Servus/Sklave wurde mit „servare/retten anstelle des offensichtlichen servire/dienen verknüpft. Die Rechtfertigung zur Versklavung des Besiegten lag also darin, dass die Alternative deren Tod gewesen wäre“ (Rn. 7). Schwingt eine Anspielung auf diesen semantischen Zusammenhang auch bei Paulus in Röm mit, wo der Apostel explizit seine Dankbarkeit für die Rettung aus dem Bereich der Sünde, des Todes und der Todesverstrickung zum Ausdruck bringt (z.B. Röm 7,24f.)? Diese Sinnlinie bei der Selbstbezeichnung als δοῦλος könnte auch in Phil 3,10f.20f. anklingen,Footnote 71 wo Paulus zusammen mit Christus auf seine Auferstehung von den Toten hofft, sie scheint hingegen im Argumentationsrahmen des Gal keine besondere Rolle zu spielen.
Der Status eines Sklaven wird – wenn man von dem ‚moralischen Sklaven‘ absieht, den die hellenistisch-römische Moralphilosophie problematisiert (vgl. z.B. Dion von Prusa Or. 15,29) –Footnote 72 einer Person entweder bereits durch die Geburt, durch Schuldknechtschaft bzw. SelbstverkaufFootnote 73 oder durch die „Versklavung im Krieg“ zuteil (captivitas):Footnote 74 Genauso wie der Sieger originäres Eigentum an der Kriegsbeute durch occupatio/Aneignung erhält, bekommt er auch die Herrschaft über den gefangenen Feind, der zum Sklaven wird.Footnote 75 In Gal, Röm und Phil lassen sich Assoziationen insbesondere zu beiden Sinnlinien – erstens dem Eintritt des Paulus in die Sklaverei durch Geburt (Gal) oder zweitens den Verlust der Freiheit durch occupatio (Röm und Phil) – finden.
Erstens: Da Paulus in Gal 1,15ff. darauf hinweist, schon vor seiner Geburt auserwählt worden zu sein, muss ihm die ihm eigene Rolle als δοῦλος Χριστοῦ ebenso bereits pränatal zugefallen sein. Maßgeblich für den Sklavenstatus durch Geburt ist der Status der MutterFootnote 76 – das Kind folgt dem Status der Mutter immer dann, wenn es außerhalb einer nach römischem Recht wirksamen Ehe (matrimonium iustum) geboren wurde (Gai. 1,55f.).Footnote 77
Ähnlich wie in Israel und nach jüdischem VerständnisFootnote 78 waren auch im römischen Rechtskontext die Kinder einer Sklavin grundsätzlich – und das galt mit nur wenigen Ausnahmen – unfrei.Footnote 79 Gleichwohl macht Paulus in Gal 4,22ff. mit seinem Verweis auf Hagar und Sara als παιδίσκη bzw. ἐλɛυθέρα eine Unterscheidung im Blick auf den Status der Nachkommenschaft auf.Footnote 80 Die Erklärung dafür, dass neben AbrahamFootnote 81 auch die beiden Frauengestalten Hagar und Sara in die Argumentation von Gal 3–4 ‚hineinkommen‘, liegt in der Allegorese in Gal 4,24ff.Footnote 82 Denn im Blick auf das römische wie jüdische Rechtsverständnis kann Paulus nicht auf den (rechtlichen) Unterschied im Status hinweisen, der mit der Nachkommenschaft Hagars als Sklavin einerseits und Saras als „Freier“ andererseits verbunden ist. So löst sich die paulinische Argumentation in Gal 4,21–31 weitgehend vom Rechtsdiskurs, auch wenn sie sich der Sklavereilexik (παιδίσκη, ἐλɛυθέρα) bedient und diese explizit aufruft (Gal 4,24f.: ɛἰς δουλɛίαν… δουλɛύɛι). Hier bestimmen nicht rechtliche oder soziale Fragen den Deutungsrahmen, sondern der allegorische Zugriff auf die Genesiserzählungen (Gen 16–21LXX) im Lichte prophetischer Interpretation (s. Gal 4,27: Jes 54,1LXX). Wie passt die paulinische δοῦλος-Rolle in diesen Argumentationsgang? Als δοῦλος Χριστοῦ ist Paulus – so wie die Adressaten in Galatien – in der Folge Isaaks ein „Kind der Verheißung“ (Gal 4,28: … κατὰ Ἰσαὰκ ἐπαγγɛλίας τέκνα …). Dessen Mutter – Sara – ist zugleich eine „Freie“. Wichtiger noch als die δοῦλος-Rolle selbst ist letztlich also deren attributive Determinierung: „Sklave Christi“ zu sein, bedeutet in der auf Freiheit hin (s. Gal 5,1: Τῇ ἐλɛυθɛρίᾳ ἡμᾶς Χριστὸς ἠλɛυθέρωσɛν …) angelegten Nachkommenschaft Abrahams zu stehen und darin die Aufgabe wahrzunehmen, die Gemeinschaft der Christus-Glaubenden auf diesen Weg der Freiheit zu führen.
Zweitens: Anders als in Gal, wo Paulus darauf anspielt, schon vor und mit der Geburt δοῦλος Χριστοῦ zu sein, klingt in Röm und Phil eher die Sinnlinie der Versklavung durch occupatio an: Im universalen Krieg gegen Sünde und Tod, denen Paulus selbst so wie jeder Mensch (Röm 1,18ff.) unterworfen war, wurde der Apostel durch Jesus ‚okkupiert‘, d.h. er steht von nun an in dessen Dienst und unter der Verfügungsgewalt Christi (s.u.). Somit wäre die δοῦλος Χριστοῦ Ἰησοῦ-Selbsttitulatur, die sich Paulus im Präskript des Röm selbst zuweist (Röm 1,1), letztlich gewissermaßen ein Rollenangebot für jeden/jede Christus-Gläubige(n) in der römischen Gemeinde, der/die sich durch Christus aus dem universalen Zorn Gottes (Röm 5,9f.) und der Vergänglichkeit (Röm 8,21) retten will. Auch im Phil klingt die occupatio des Paulus durch Christus an (Phil 1,23ff.; 3,10f.20f.). Allerdings steht hier weniger – als noch in Röm 1,18–8,39 der Fall – die Explikation der Begründung dieser occupatio im Vordergrund als vielmehr die prospektive Erwartung der Zukunft für die Sklavenexistenz, die Paulus als vollständige Konformität mit Christus (Phil 3,20f.), der selbst Sklave wurde (Phil 2,6ff.) und dann aus seiner ultimativen Selbsterniedrigung heraus die von Gott verliehene kosmokratische κύριος-Würde erhielt (Phil 2,11), für sich persönlich antizipiert.
Die gewöhnliche Todesstrafe für einen Sklaven bestand u.a. in der Kreuzigung (Rn. 15).Footnote 83 Auch diese Konnotation ist in Phil 2 erkennbar. Erklärt sich so die wie ein Zusatz wirkende Wendung θανάτου δὲ σταυροῦ in Phil 2,8, die von der Paulusexegese vielfach entweder soteriologisch aufgefasst oder in Kohärenz mit der paulinischen Kreuzestheologie gedeutet wird?Footnote 84 Lesen wir die δοῦλος Χριστοῦ Ἰησοῦ-Wendung im Lichte römischer Rechtspraxis, so wird hingegen eine doppelte Interpretation möglich: Für Paulus liegt in Phil 2 der Fokus zum einen darin hervorzuheben, dass Jesus – als Sklave (Phil 2,7)! – mit der Kreuzigung nicht auf widerrechtliche Weise starb.Footnote 85 Zum anderen sucht Paulus, den Sklaven-Status Jesu in seiner paradigmatischen Funktion der Selbsterniedrigung für sich selbst (und seine Mitarbeiter und die Gemeinde) und im Blick auf die Konformität mit dem eschatologischen Schicksal Jesu herauszustellen. Dass Paulus (und Timotheus) – im Unterschied zu den Gemeindemitgliedern, die in der Gefahr stehen, sich mit den „Feinden des Kreuzes Christi“ gemein zu machen (Phil 3,18) – schon jetzt jeweils als δοῦλος Χριστοῦ Ἰησοῦ bezeichnet werden können (Phil 1,1; s. auch 2,22), lässt sich als ein Hinweis darauf verstehen, dass sie selbst bereits auf dem Weg der Christus-Konformität vorangeschritten sind.
2.3 Darlegung des Verhältnisses zum „Herrn“ im Sinne der Unterordnung unter die dominica potestas
Nach römischer Rechtsvorstellung war ein Sklave sowohl Person als auch Sache (Rn. 9). Die sog. „dominica potestas/Herrengewalt des ius gentium beinhaltete Disziplinarbefugnisse … und gab dem Herrn/Eigentümer das Anrecht auf sämtlichen Erwerb des Sklaven“ (ebd.). Damit einher geht das ius vitae necisque, d.h. das Recht über Leben und Tod (Rn. 32). Wie Paulus Vorstellungen einer solchen, durch Christus ausgeübten dominica potestas entwickelt, wird bereits in der korinthischen Korrespondenz greifbar, ohne dass er sich selbst hierin schon programmatisch als δοῦλος Χριστοῦ Ἰησοῦ bezeichnen würde. Gleichwohl wird schon in 1 und 2 Kor die Anerkennung einer solchen durch Christus ausgeübten dominica potestas in dreifacher Hinsicht greifbar.
Erstens: Paulus macht deutlich, dass alles, was er im Rahmen seines apostolischen Dienstes tut, Christus gehört (z.B. schon 1 Kor 3,23). Die Verdienste des Apostels also fallen Christus zu – Paulus selbst kann auf seine Leistungen keine eigenen ‚Eigentumsansprüche‘ erheben (s.o.). Doch in welcher Weise findet Paulus als Sklave durch seinen „Herrn“ Verwendung? Paulus sieht sich seinem „Herrn“ direkt unterstellt, auch wenn er die Vorstellung von einem Sklavendienst unter Aufsicht eines ἐπίτροπος kenntFootnote 86 und als Bild zur Beschreibung der Unmündigkeit vor der Sendung Christi verwendet (Gal 4,2). Nach seiner eigenen Darstellung (z.B. 2 Kor 12,1–10) ist seine Verbindung zu seinem Herrn jedoch nicht distanziert – Paulus ist vielmehr gut integriert in die familia Christi und arbeitet stets in direkter, enger Verbindung zu seinem „Herrn“.
Zweitens: Christus kann als Herr des Paulus disziplinieren. Die „Leiden Christi“, die über den Apostel kommen (z.B. 2 Kor 1,5: τὰ παθήματα τοῦ Χριστοῦ ɛἰς ἡμᾶς), lassen sich nicht nur partizipatorisch, sondern auch als korrigierende Disziplinarmaßnahme des erhöhten Christus an Paulus verstehen. Paulus soll in körperlicher Schwäche auf die Gnade Christi angewiesen sein (2 Kor 12,9). Die Sklavenrolle prägt für Paulus gleichzeitig seine Sicht auf die Schicksals- bzw. Leidensgemeinschaft mit Christus und ermöglicht ihm eine vorauslaufende Deutung seines nahe bevorstehenden gewaltsamen Todes (Phil 1–3): Zwar ist die unrechtmäßige Tötung eines Sklaven (servus) ein Privatdelikt,Footnote 87 das eine Eigentumsverletzung des „Herrn“ sanktioniert, während die gewaltsame Tötung des Vaters (parricidium) ein durch Popularklage verfolgtes crimen darstellt.Footnote 88 Entscheidend ist aber, dass auch die Tötung des Sklaven nicht folgenlos bleibt, sondern vom „Herrn“ verfolgt wird und letztlich eine Rechtsverletzung des „Herrn“ bedeutet. Als „Sklave“ hofft Paulus, dass sein „Herr“ in jedem Fall – sei es durch Leben oder Tod des Sklaven – an dessen Leib groß gemacht werde (μɛγαλυνθήσɛται Χριστὸς ἐν τῷ σώματί μου, ɛἴτɛ διὰ ζωῆς ɛἴτɛ διὰ θανάτου: Phil 1,20). Da sein „Herr“ ebenfalls einen gewaltsamen Tod erlitten hat (Phil 2,8), führt die Eigentumsverletzung, die Christus durch den Tod des Paulus entstünde, letztlich den Herrn und seinen Sklaven – in Tod und Auferstehung – nunmehr noch näher zusammen (Phil 3,10f.20f.). Zugleich kann der Herr, wenn der Sklave getötet wird, gegen den Schädiger auf Zahlung einer Buße vorgehen, d.h. die Tat sühnen lassen.
Drittens: Wenn Christus als „Herr“ das ius vitae necisque innehat, so ist Paulus – als sein Sklave – diesem Herrn im Leben und Tod vollständig ausgeliefert.Footnote 89 Eine solche Vorstellung eines vollständigen Ausgeliefertseins im Leben und Tod bringt Paulus z.B. in Röm 14,8 zum Ausdruck: ἐάν τɛ γὰρ ζῶμɛν, τῷ κυρίῳ ζῶμɛν, ἐάν τɛ ἀποθνῄσκωμɛν, τῷ κυρίῳ ἀποθνῄσκομɛν. ἐάν τɛ οὖν ζῶμɛν ἐάν τɛ ἀποθνῄσκωμɛν, τοῦ κυρίου ἐσμέν. Mit der Anerkennung der Ausübung der ius vitae necisque durch Christus begreift sich Paulus zugleich als Teilhaber an Jesu Schicksalsgemeinschaft in Leiden, Tod und Auferstehung. Er befindet sich so faktisch in der dem Sklaven sehr ähnlichen Rolle eines Hauskindes, das der familia als (Wirtschafts-)Organisation angehörtFootnote 90 und wie die familia als ganze vollständig durch das Geschick des pater familias bestimmt wird.
So sehr Sklaven und Hauskinder damit zu Lebzeiten als ‚vermögenslos‘ gelten, so sehr haben sie berechtigte Erwerbshoffnungen auf die Zukunft. Dieser Motivkomplex könnte auch Paulus vertraut sein und sein self-moulding mitbeeinflusst haben: Denn er selbst – einstiger Verfolger der Christus-Glaubenden (Gal 2,13f.; Phil 3,6) – kann nur von außen, d.h. durch die Sklavenrolle zu dem Haushalt Christi hinzustoßen und so seine Einbindung in die Familie seines „Herrn“ erlangen.Footnote 91 Zugleich darf er auf eine Alimentierung oder auf sonstige erbrechtliche Beteiligung am Nachlass des Herrn hoffen. Zunächst sind die Hauskinder als sui heredes die natürlichen Erben des verstorbenen Hausvaters.Footnote 92 Die Sklaven hingegen können auf testamentarische Freilassung und auf Alimentierung im Testament hoffen. Diese Motivik dürfte nicht nur das paulinische Selbstverständnis mitprägen, sondern auch im Hintergrund von Gal 4,1–7 stehen, wo Paulus einerseits auf ebendiesen Unterschied zwischen dem κληρονόμος νήπιος und dem δοῦλος hinweist, andererseits aber deutlich macht, wie Gott – in dem Fall der ‚Hausvater‘ – mit der Sendung Christi (Gal 4,6) nun den zunächst nicht erbberechtigten HaussklavenFootnote 93 Anteil an der Erbschaft gibt. In der Logik des römischen Rechts kann diese Zuweisung der Erbenstellung an den Sklaven nur testamentarisch erfolgen,Footnote 94 muss also durch eine διαθήκη geregelt sein (Gal 3,15.17). Aus dem Duktus der paulinischen Argumentation in Gal 3–4 ergibt sich, dass ebendiese testamentarischen Regelungen von Gott bereits im Voraus getroffen wurden (Gal 3,15.17).Footnote 95
Ziehen wir den Kontext römischer Rechtspraxis für die Interpretation von Gal 3–4 hinzu, so entsteht eine weiterführende Einsicht. Paulus variiert bei der Definition der Rolle des Hausvaters. Während für Paulus selbst Christus sein „Herr“ ist, so verknüpft er die Erbberechtigung der Galater mit der Hausgemeinschaft Gottes. Nicht nur ordnet Paulus auf diese Weise die Herrschaft Christi der Herrschaft Gottes bei, sondern verbindet dabei beide Bereiche der dominica potestas durch seine Person. Denn Paulus, der Χριστοῦ δοῦλος (Gal 1,10), ist zugleich der ἀπόστολος (Gal 1,1), der die Galater wiederum darin anleitet, ihre Erbschaft in der Hausgemeinschaft Gottes nicht zu verspielen, sondern ‚ordnungsgemäß‘, d.h. evangeliumsgemäß (Gal 1,6–9), anzutreten. In der Konsequenz agiert Paulus, der Χριστοῦ δοῦλος, im Gal gewissermaßen als παιδαγωγός der Galater. Das aber bedeutet: Nun ist nicht mehr (allein) – wie Paulus in Gal 3,24 unterstreicht – der νόμος der παιδαγωγὸς… ɛἰς Χριστόν (Gal 3,24), sondern Paulus selbst, der „Sklave Christi“, wird im Laufe seines Schreibens der παιδαγωγός der Galater, der diese in ihre Erbschaft einweist (z.B. Gal 4,7).Footnote 96
2.4 Darlegung der Arbeits- und Aufgabenbereiche und Begründung des paulinischen Karrierestrebens
Gamauf weist darauf hin, dass die Sklaverei im Imperium Romanum im Prinzipat in sozialer und ökonomischer Hinsicht „den Zenit“ erreicht (Rn. 5). Die vielfältige Einsetzbarkeit von Sklaven ist ebenso belegt wie deren Karrieremöglichkeiten, die von Unterhaltungsaktivitäten (z.B. Gladiatoren, Schauspieler) über Medizin (Ärzte) bis zu Literatur, Philosophie und Wissenschaften reichten (Rn. 5). Géza Alföldy spricht davon, wie gerade „unter den Sklaven und Freigelassenen… die Vertreter der ‚Intelligenzschicht‘ des Römischen Reiches“ zu finden waren.Footnote 97 Wahrscheinlich war Tiro, der Sklave Ciceros, literarisch und philosophisch tätig. Epiktet ist ein berühmtes Philosophen-Beispiel aus der frühen Kaiserzeit.Footnote 98 Hier spricht ein ehemaliger Sklave selbst über Sklaverei und Freilassung aus der Sklaverei (Diatr. 4.1).Footnote 99 Im Unterschied zu Epiktet sieht sich Paulus aber jetzt noch als Sklave, ja macht sich die Sklavenrolle im Sinne einer Antonomasie sogar zu eigen (s.o.).
Im Spiegel der römischen Sozialgeschichte betrachtet, ist die Selbstbeschreibung des Paulus als δοῦλος weder als Begrenzung seiner Ambitionen noch seines möglichen Aktivitätsradius misszuverstehen. Ganz im Gegenteil: Gehört der Sklave einem wohlhabenden und angesehenen Haus an, so sind seine Aufstiegschancen – insbesondere als Freigelassener – besonders groß. Freigelassene, die – wie gesehen – römisches Bürgerrecht erhalten, sind die „großen Karrieristen in der römischen Gesellschaft im Osten und im Westen des römischen Reiches“.Footnote 100 Sklaven fanden im Haushalt ihres „Herrn“ Nahrung, Ausbildung und Sicherheit oder hatten als Handwerker Möglichkeiten, einen eigenen kleinen Betrieb zu führen.Footnote 101 Die Sklaverei bot insofern sogar Anreize, als sie mit der Hoffnung verbunden war, durch die Freilassung „automatisch das römische Vollbürgerrecht“ zu erwerben.Footnote 102 Gerade dies zeichnet die römische „générosité“ gegenüber der griechischen „avarice“ aus.Footnote 103 Auch wenn nämlich ein Freigelassener (libertus) gegenüber dem Freigeborenen (ingenuus) ein geringeres Ansehen genoss und verschiedene Einschränkungen der Rechtsstellung hinnehmen musste, war das römische Bürgerrecht damit eine erwartbare Perspektive jedes römischen Sklaven.
So schafft der Sklavendienst also Möglichkeiten, die auch das Selbstverständnis des Paulus in fünffacher Hinsicht prägen. Erstens: Paulus kann als Sklave seiner Arbeit in relativer Selbständigkeit nachgehen und mit unmittelbarer Wirkung für den Herrn erbringen. Zweitens: Da er sich selbst als im ‚göttlichen Haushalt‘ Tätigen ansieht (1 Kor 4,1: … ὡς ὑπηρέτας Χριστοῦ καὶ οἰκονόμους μυστηρίων θɛοῦ), kann er seinen Aktivitätsradius sogar als universal ansehen und seinen apostolischen Eifer als maximal wirksam einstufen (z.B. Phil 3,12ff.). Hinter der δοῦλος-Rolle, die sich Paulus zuweist, dürfte also weniger die Vorstellung stehen, sich als Sklave im Bergwerk in Dunkelheit abzumühen, als vielmehr im Haushalt Christi – in engem Kontakt zu seinem „Herrn“ – seine Arbeit als angesehener οἰκονόμος im Rahmen der ekklesialen Gemeinschaft Christi, der Paulus in doppelter Vertreterschaft vorsteht (s.o.), zu verrichten.Footnote 104 Wichtig scheint in diesem Zusammenhang, dass im römischen Kontext nicht das Haus (οἶκος), sondern die familia Bezugspunkt der Sklaven war.Footnote 105 Der Begriff familia hat eine „mehrstufige soziale Bedeutung“, die Personen umfasst, die in Stadt und Land der patria potestas unterstehen.Footnote 106 Herren- bzw. Hauskinder und Sklavenkinder wuchsen zusammen auf und wurden teils zusammen unterrichtet. Dabei war das „Lehrpersonal… unfreier Herkunft“.Footnote 107 Jenes Zusammenleben des freien Sohnes mit dem Sklaven ist auch Paulus vertraut – er spielt darauf in Gal an (Gal 4,1). Denn er kennt ebenfalls die Praxis des Unterrichts des unmündigen „Freien“ durch eine unfreie Lehrperson (Gal 3,24: παιδαγωγός).Footnote 108
Drittens: Durch die Rollenzuweisung als δοῦλος erhöht Paulus die Möglichkeiten seines persönlichen Karrierestrebens, das er in Phil 3,7ff. in vollständiger Unterordnung unter seinen „Herrn“ darlegt. Paulus hat den pharisäischen ζῆλος zugunsten eines Eifers als Sklave, der letztlich auf das Erlangen von Christus-Erkenntnis und Gerechtigkeit (Phil 3,8f.) zielt, abgelegt. Dass Paulus in seinem Sklavendienst für Christus sogar inzwischen in das „Haus des Kaisers“ vorgedrungen ist (Phil 4,22; vgl. schon 1,13), lässt sich als Ausweis seines erfolgreichen Strebens nach προκοπὴ τοῦ ɛὐαγγɛλίου (Phil 1,12) begreifen, die selbst unter den Bedingungen von Gefangenschaft gelingt. Denn die Teilhabe und Teilnahme an den „Leiden Christi“ (so schon 2 Kor 1,5) authentifizieren die Kreuzestheologie des Apostels (1 Kor 1,18ff.) in und an seiner eigenen Person (Gal 6,14.17) und bringen den Apostel so in noch größere Nähe zu seinem „Herrn“ (Phil 1,21ff.).
Viertens: Paulus darf zudem als Sklave hoffen, am πολίτɛυμα ἐν οὐρανοῖς (Phil 3,20) teilzuhaben, d.h. gleichsam volles himmlisches Bürgerrecht zu erhalten.Footnote 109 Nicht zu unterschätzen sind fünftens die Vorteile, die der „Herr“ durch den Sklaven – sogar noch „im Patronatsverhältnis mit seinem libertus“ – hat.Footnote 110 Christus also ‚profitiert‘ durch Paulus, so wie Paulus von seinem Sklavendienst für seinen „Herrn“ Christus ‚profitiert‘, und zwar lange über den aktiven Dienst für seinen „Herrn“ hinaus.Footnote 111 Paulus und Christus bleiben aufeinander angewiesen und sind untrennbar verbunden (z.B. Gal 2,20 oder Phil 1,21-26). Diese Vorstellung lässt sich nicht nur mystisch,Footnote 112 sondern – wie gerade gesehen – auch im Deutungsrahmen des Patronatsrechts verstehen.Footnote 113
2.5 Begründung der sozio-ökonomischen Lebensbedingungen und Lebensweise
Schließlich lässt sich das Selbstverständnis des Paulus als δοῦλος gerade in sozio-ökonomischer Hinsicht näher profilieren, wenn es in den Interpretationsrahmen des antiken römischen Rechts sowie der Sozialgeschichte hineingestellt wird. Folgendes Bild ergibt sich: Sklaven waren trotz „ihres unfreien Status nicht konsequenterweise arm“, da sie sich im „Netzwerk der familia ihres Herrn, die ihr Schicksal bestimmt“, befanden.Footnote 114 Gleichwohl waren Sklaven rechtsunfähig (Rn. 9) und konnten kaum anerkannte soziale Beziehungen eingehen (Rn. 10). Auch konnte ein Sklave – mit Ausnahme des peculium Footnote 115 – „weder zivilrechtlich schulden, noch aus Forderungen oder dinglich berechtigt sein und nicht einmal im Rechtssinne besitzen“ (Rn. 14). Zugleich waren Sklaven jedoch „deliktsfähig: Für das Strafrecht blieben sie persönlich verantwortlich (und ihre Strafen strenger als bei Freien)“ (Rn. 15).Footnote 116
Der rechtliche Status des Sklaven könnte in mehrfacher Hinsicht im Hintergrund der paulinischen Apostolatsauffassung in seiner sozio-ökonomischen Dimension stehen. Denn erstens stellt Paulus seine Besitzlosigkeit heraus. Zweitens betont Paulus, dass er keinen eigenen Gewinn oder Ruhm aus seiner apostolischen Tätigkeit zu beziehen beabsichtigt, sondern sich ganz in den Dienst seines Herrn stellt (z.B. 2 Kor 3,1) und sich – wenn überhaupt – nur der Gemeinde (z.B. 2 Kor 1,12–14) und ihrer Auferbauung rühmt (z.B. 1 Kor 12–14). Drittens aber ist sich Paulus zugleich bewusst, dass er um seine Integrität besorgt sein muss (bes. 2 Kor 1–7 und 10–13) und sich nichts zuschulden kommen lassen darf: Auch wenn er selbst keinen Gewinn für sich erzielt, so ist er persönlich für die Art, in der er seinen apostolischen Dienst ausführt und versieht, verantwortlich und – letztlich vor Christus und Gott selbst – ‚haftbar‘ (z.B. 2 Kor 5,10).
Auf rechtliche Aspekte, die die Möglichkeit eines Sklaven betreffen, als Erbe in einem Nachlass eingesetzt zu werden,Footnote 117 scheint Paulus höchstens indirekt anzuspielen, wenn er für sich selbst die δοῦλος-Rolle bemüht. Als res wurden Sklaven „den allgemeinen sachen-, schuld- oder erbrechtlichen Regeln“ unterworfen (Rn. 9).Footnote 118 Wenn Paulus in Gal 3–4 die Bedingungen, unter denen die Erbschaft nach der Verheißung Gottes als „Sohnschaft“ (Gal 4,5) angetreten werden kann, reflektiert, so verknüpft er diese Überlegungen jedenfalls nicht erkennbar mit seiner δοῦλος-Rolle, sondern klärt vornehmlich seine Adressaten in Galatien über ihre eigentliche Zugehörigkeit zur Nachkommenschaft Abrahams und somit zur familia Dei auf.
3. Paulus und das römische Recht: Ein kurzer Ausblick
Die Selbstbeschreibung als δοῦλος Χριστοῦ (Ἰησοῦ) nimmt Paulus nicht zufällig oder situativ bedingt vor. Sie findet sich vielmehr in drei Briefen an prominenter Stelle im Briefeingang oder in der Nähe dazu. Nicht nur ist Paulus in der Kommunikation mit seinen Gemeinden in realer Weise mit der Institution der Sklaverei vertraut und thematisch beschäftigt, sondern er bedient sich der Sklaven-Semantik auch darüber hinausgehend in uneigentlicher Sprachform,Footnote 119 die – in Bezug auf sich selbst – vom metaphorischen Sprachgebrauch in eine Antonomasie übergeht. Denn in Verwendung für sich selbst begreift Paulus die δοῦλος-Bezeichnung als Näherbestimmung seines apostolischen Dienstes für Christus. Findet sich die Selbstbezeichnung als δοῦλος Χριστοῦ (Ἰησοῦ) in (Nähe zu) den Briefeingängen von Gal, Röm und Phil, so füllt Paulus sein Sklaven-Verständnis in diesen drei Briefen jeweils spezifisch aus und entwickelt auf diese Weise seine apostolische Rollenkonfiguration über 1 Thess und 1 und 2 Kor hinaus weiter: Die δοῦλος Χριστοῦ (Ἰησοῦ)-Rolle steht – wie keine andere Selbstbezeichnung – für die direkte und uneingeschränkte Bindung des Paulus an Christus, die einerseits seine persönliche Ergebenheit gegenüber seinem „Herrn“, andererseits seine maximale Bevollmächtigung durch den „Herrn“ zum Ausdruck bringt.Footnote 120 Macht sich Paulus in Gal zum Sklaven Christi von Geburt an, so gestaltet er – mit jeweils unterschiedlicher Akzentuierung – in Röm und Phil gewissermaßen die Vorstellung von einer Versklavung durch Christus als occupatio bzw. captivitas im Sinne einer siegreichen Aneignung seiner Person durch Christus (s.o.).
Paulus zeigt in vielerlei Hinsicht Vertrautheit mit der Sklaverei in der hellenistischen Welt. Stellen wir das paulinische Syntagma des δοῦλος Χριστοῦ (Ἰησοῦ) in den Interpretationsrahmen des römischen Rechts, so ergeben sich Sinnlinien, die das paulinische Selbstverständnis als Sklave nicht (allein) vom Aspekt der Abhängigkeit, Unfreiheit, Selbsterniedrigung oder Stigmatisierung her erschließen, sondern als Ausweis von maximaler Einsatzbereitschaft durch unbedingte Unterordnung unter den „Herrn“ plausibilisieren. Denn der römische Rechtsrahmen bietet insgesamt einen pragmatischen Umgang mit der Sklaverei an, der den Handlungsspielraum des Sklaven im Verhältnis zu seinem „Herrn“ ordnet und so gewissermaßen funktionalisiert. Diese Denkbewegung, die durch das ius gentium universalisiert ist und in der römischen Konzeption der Sklaverei im Rahmen der familia eine personal strukturierte Organisationsform findet, scheint auch bei Paulus durch, und es stellt sich die Frage: Wieweit war Paulus mutmaßlich mit dem römischen Recht und den römischen Rechtsvorstellungen zur Sklaverei vertraut? Zur Beantwortung dieser Frage, die in den Darstellungen zur Bildung des Paulus gemeinhin nicht tangiert wird,Footnote 121 lassen sich vorerst nur Indizien anführen, die sich einerseits aus der Biographie des Paulus und andererseits aus seinem Denk- und Argumentationsstil in den Briefen ableiten lassen.
Zur Biographie des Paulus: Sollte Paulus schon qua Geburt (Apg 22,28) römisches Bürgerrecht durch Freilassung erhalten haben,Footnote 122 so entstammte er einer Familie in Kilikien, die auf ihre manumissio in Dankbarkeit und Loyalität zurückblickte und aus dieser auch sittlich und rechtlich verpflichtet war: „Freigelassene waren allzumeist besonders ergebene Diener ihres Herrn. Für mächtige Römer stellten sie eine wichtige Funktionsgruppe dar“.Footnote 123 Doch nicht erst Freigelassene, sondern schon SklavenFootnote 124 wurden vielfach als fähige Verwalter und Geschäftsführer eingesetzt, so dass darauf geachtet wurde, „daß der Freizulassende hinreichend integriert war, also mit römischen Sitten und der Sprache vertraut war und einen brauchbaren römischen Bürger abgab“.Footnote 125 Für die Stadtgeschichte Roms im 1. Jh. ist belegt, dass ein hoher Prozentsatz der Juden sich „aus Freigelassenen bzw. Freigelassenen-Nachkommen“ rekrutierte.Footnote 126 Dass es in Kilikien – dem vermuteten Herkunftsbereich des Paulus (s. Apg 21,39; 22,3; 23,34; 9,11)Footnote 127 – Juden gab, ist unbestritten (Philo Legat. 281). Wie groß der Anteil an freigelassenen Juden war, können wir kaum wissen. Wichtig aber scheint, dass Freigelassenen bzw. Freigelassenen-Nachkommen ein gewisses Interesse an römischen Sitten und eine Vertrautheit damit unterstellt werden können.Footnote 128 Das ius gentium könnte darüber hinaus einen hohen Bekanntheitsgrad, u.a. auch für das rabbinische Recht,Footnote 129 gehabt haben – insbesondere unter denen, die qua Freilassung das römische Bürgerrecht erhalten hatten.Footnote 130
Zum Denk- und Argumentationsstil des Paulus: Gerade in Gal und Röm ist die paulinische Argumentation durch rechtliches (nomistisches) Denken, d.h. praktische Fragen der Schrift- bzw. Gesetzauslegung und ein fundamentales Nachdenken über die Bedeutung des Gesetzes, geprägt (z.B. Gal 3,19ff.), was vermuten lässt, dass sich Paulus auch in grundsätzlicher Weise mit Fragen von Rechtsauffassung und -vorstellung befasst hat. In Phil 3 weist Paulus zudem auf seine pharisäische Ausbildung hin (Phil 3,5: κατὰ νόμον Φαρισαῖος). Auch wenn der Bildungskanon der Pharisäer im Einzelnen nicht rekonstruiert werden kann, so lässt sich Josephus entnehmen, dass Pharisäer – unabhängig von ihrer sozialen Herkunft – als gebildet galten (z.B. Josephus Vit. 191ff.).Footnote 131 Auch ihre Akribie im Umgang mit dem Gesetz war bekannt (z.B. Josephus BJ 2,162).Footnote 132 Da Fragen der Herleitung des ius gentium besonders im Verhältnis zum ius naturale u.a. in der Rhetorik verhandelt werden,Footnote 133 ist eine Beschäftigung mit Grundfragen des (römischen) Rechts bei einer rhetorischen Ausbildung – nicht zuletzt in den Progymnasmata (nomos) – durchaus mitzudenken (z.B. Theon Prog. 128f.).Footnote 134 Dazu kommt: Als hellenistischem Juden, dem die Mittelmeerwelt und mit ihr das dort allgemein praktizierte, im ius gentium dargelegte Sklavenrecht vertraut war, dürfte Paulus das römische Recht zumindest in Grundzügen bekannt gewesen sein. Gleichwohl gilt für den paulinischen Umgang mit jedweden Motiv- und Vorstellungsbereichen: Die IntellektualitätFootnote 135 paulinischer Argumentation manifestiert sich im eklektischen und synthetisierenden Zugriff auf vielfältige Traditions- und Motivbereiche,Footnote 136 die Paulus jeweils in eigenwilliger Weise in seinen eigenen, epistolaren Denk- und Schreibstil überschreibt.
Impulse für die zukünftige Forschung: Dieser Beitrag hat verschiedene Aspekte des römischen Sklavenrechts benannt und für die Deutung des paulinischen Syntagmas δοῦλος Χριστοῦ (Ἰησοῦ) herangezogen, um die Plausibilität dieser Selbstkonzeption und ihrer Bedeutung in Gal, Röm und Phil nachzuvollziehen. Paulus leistet mit der Deutung seines Lebens und Wirkens als „Sklave Christi Jesu“ durchaus einen eigenständigen Beitrag zum antiken Sklavereidiskurs. Weitere Studien – insbesondere zu den Erbrechtsvorstellungen in Gal 3–4 – werden nötig sein, um bewerten zu können, inwieweit das römische Recht und die römische Rechtspraxis in größerem Umfang im Blickfeld des Apostels waren. Inwieweit und in welcher Weise hat sich Paulus, der in Röm 1,16f. die δικαιοσύνη θɛοῦ zum Schlüsselthema seiner Argumentation macht, mit verschiedenen antiken Vorstellungen von Recht befasst? Die mögliche Perspektivenerweiterung bei diesen Forschungsfragen liegt dabei sowohl auf Seiten der Paulus-Forschung wie auf Seiten der Erforschung des römischen Rechts: Wenn die hier vermutete Vertrautheit des Paulus mit römischen Rechtsauffassungen und römischer Rechtspraxis in einem hellenistischen Kontext zutrifft, könnten seine Briefe ein wertvoller Hinweisgeber für die Erforschung populärer Rechtsvorstellungen in der frühen Kaiserzeit sein.
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