Die Frage, ob in der Erzählung von Petrus und Kornelius (Apg 10,1–11,18) halachische Normen verletzt oder aufgehoben werden, wird in der Forschung kontrovers beantwortet. Während die ältere Auslegung von einem grundsätzlichen Bruch mit der Tora ausging,Footnote 1 und die meisten neueren Kommentare zumindest eine Überschreitung oder Aufhebung von Speise-Footnote 2 oder ReinheitsgebotenFootnote 3 im Text sehen, werden halachische Normverletzungen von einigen Auslegern gänzlich bestritten: Zwar enthalte die Vision selbst augenscheinlich eine Aufforderung zum Normbruch, dieser werde aber in der Folgeerzählung nicht in die Tat umgesetzt, sondern vom Bildbereich der Speisegebote auf den Sachbereich des Sozialkontaktes mit Nichtjuden übertragen. Im Verlauf der Erzählung würden daher keine halachischen Normen verletzt, sondern allenfalls „ethnic barriers and social boundaries“ überschritten oder mit „gängiger Praxis“ gebrochen.Footnote 4
Eine bleibende Schwierigkeit solcher „normkonformer“ Deutungen besteht jedoch in der Frage, warum der bildspendende Bereich der Vision ausgerechnet zu einer eklatanten Normverletzung aufzufordern scheint, wenn er dann in der Folge auf einen normkonformen Sachverhalt übertragen werden soll. Die neueste umfangreiche monografische Untersuchung des Textes versucht diese Schwierigkeit zu lösen, indem sie die Vision des Petrus nicht als Offenbarungsgeschehen, sondern als hungerinduzierten Alptraum deutet, in dem Petrus lediglich seine eigenen Ängste verarbeite.Footnote 5 Diese jedoch erwiesen sich im weiteren Verlauf der Erzählung als unbegründet, weil halachische Bestimmungen bei der Begegnung mit Kornelius nicht verletzt würden. Es bleibt allerdings auch hier, ebenso wie bei den übrigen „normkonformen“ Deutungen, eine Schwierigkeit bestehen: Denn der Vorwurf eines Normverstoßes wird im Verlauf der Erzählung nicht nur von Petrus selbst (10,28), sondern auch von anderen Personen (11,2–3) ausdrücklich formuliert. Es bleiben also zwei Alternativen: Entweder irren die neueren Ansätze in ihrem halachischen Urteil, oder aber die handelnden Personen der Erzählung selbst irren.
Das in der Literaturwissenschaft entwickelte Konzept der „unzuverlässigen Erzählung“Footnote 6 bietet eine Möglichkeit, diesen widersprüchlichen Befund zu erklären. Von „unzuverlässiger Erzählung“ wird dann gesprochen, wenn ein Autor seine Leserschaft vorübergehend in die Irre führt, indem er ihr durch die Perspektive eines Erzählers oder einer Hauptfigur eine verzerrte oder falsche Darstellung der erzählten Welt vermittelt, um diese dann im späteren Verlauf der Erzählung als Irrtum oder Fehlurteil zu entlarven.
In der Bewertung der textimmanenten Normaussagen der Korneliuserzählung fand bisher die Tatsache kaum Beachtung, dass diese durchgängig in die Form von Figurenrede gekleidet sind. Nicht das Urteil des Erzählers wird also beschrieben, sondern das des Petrus und anderer handelnder Personengruppen. In der Literatur wird dieses subjektive Urteil meist unhinterfragt als objektive Darstellung der erzählten Welt akzeptiert. Richard Pervo und Knut Backhaus haben jedoch gezeigt, dass die Apostelgeschichte, insbesondere in den Petruserzählungen (Kapitel 5 und 12), durch Elemente von Humor, Witz, Ironie und „Komödisierung“ geprägt ist, und daher nicht in all ihren Erzählzügen ernst zu nehmen ist.Footnote 7 Zudem wird Petrus auch in anderen Texten der Evangelienüberlieferung durch impulsives, aber korrekturbedürftiges Fehlverhalten charakterisiert,Footnote 8 und auch im weiteren Verlauf der Apostelgeschichte arbeitet der Autor mit irreführenden subjektiven Normurteilen.Footnote 9 Daher bietet es sich an, auch die Wert- und Normurteile in Apg 10,1–11,18 nicht unhinterfragt für bare Münze zu nehmen, sondern sie als Elemente „unzuverlässiger Erzählung“ zu verstehen. Sie spiegeln nicht halachische Realitäten, sondern fehlerhafte Werturteile der erzählten Personen wider, die auf einer „über-konformen“Footnote 10 Haltung gegenüber der Tora beruhen, aber im Verlauf der Erzählung vom Autor als Irrtum entlarvt werden. Das Leitwort διακρίνειν, das im Text mehrfach aufgegriffen wird, deutet darauf hin, dass nicht nur Petrus, sondern auch die Leserinnen und Leser im Verlauf der Erzählung dazu bewegt werden sollen, genauer hinzusehen und zu „unterscheiden“.
Um das Konzept der unzuverlässigen Erzählung in der Korneliuserzählung nachzuweisen, sollen daher im Folgenden zunächst (1.) die textimmanenten Spannungen und Ambiguitäten aufgezeigt werden, die Signale für die Unzuverlässigkeit der Erzählung sind. Danach sollen (2.) die textimmanenten Normaussagen mit den uns bekannten halachischen Normen der außertextlichen Welt verglichen und auf ihre sachliche Stimmigkeit hin befragt werden. Schließlich soll (3.) anhand eines differenzierteren Konzepts von Normalität, Devianz und Normkonformität danach gefragt werden, welche Normverletzungen im vorliegenden Text tatsächlich beschrieben und wie diese vom Autor bewertet werden. Im Ergebnis zeigt sich, dass weder in der Vision des Petrus noch in der anschließenden Begegnung mit Kornelius bestehende halachische Normen verletzt oder in Frage gestellt werden. Wohl aber werden im Entstehen befindliche halachische Normen, deren Geltungs- und Wirkungsgrad noch umstritten ist, zurückgewiesen. Zudem werden informelle gesellschaftliche Normen, die ohne halachische Grundlage sind, überschritten.
1. Textimmanente Ambiguitäten als Signale unzuverlässiger Erzählung
Das Konzept der unzuverlässigen Erzählung wurde 1961 von Wayne C. Booth formuliertFootnote 11 und seitdem vor allem von Ansgar Nünning fortentwickelt und ausdifferenziert.Footnote 12 Obwohl es im Blick auf zeitgenössische Literatur entwickelt wurde, findet es zunehmend auch im Bereich antiker LiteraturFootnote 13 und biblischer TexteFootnote 14 Anwendung. Es hinterfragt die oft unreflektiert vorausgesetzte Annahme, dass die Wirklichkeitsdarstellung eines extradiegetischen Erzählers in jedem Fall richtig ist, also Realitäten der erzählten Welt zutreffend beschreibt. „Es gibt auch Erzähler, deren Behauptungen, zumindest teilweise, als falsch gelten müssen mit Bezug auf das, was in der erzählten Welt der Fall ist. In solchen Fällen liegt ein unzuverlässiger Erzähler vor.“Footnote 15 Der Autor kooperiert dabei durch versteckte Textsignale „auf geheime Art und Weise hinter dem Rücken“Footnote 16 seines eigenen Erzählers mit den Lesenden und macht dadurch deutlich, dass eine Diskrepanz zwischen dem gerade Erzählten und der tatsächlichen Realität der erzählten Welt besteht. In dem 2001 erschienenen US-amerikanischen Film „A beautiful mind“ etwa wird die Lebensgeschichte des Mathematikers John Nash erzählt, der im Auftrag des Geheimdienstes sowjetische Codes entschlüsselt. Kleinere Unstimmigkeiten innerhalb der Handlung deuten dabei an, was erst gegen Ende des Films offensichtlich wird: Bei der vom Zuschauer als filmische Realität erlebten Wirklichkeit handelte es sich um Wahnvorstellungen des psychisch kranken Protagonisten. Insbesondere bei religiösen Texten kann die Rolle des unzuverlässigen Erzählers auch auf wichtige Hauptfiguren übertragen werden, „in der Regel dann …, wenn die Figur als Medium einer übernatürlichen Instanz autorisiert ist“,Footnote 17 wie es in der Korneliuserzählung zweifellos der Fall ist. In solchen Fällen erscheint es den Lesenden zunächst „grundsätzlich sinnlos …, den Geltungsanspruch einer Figurenrede anzuzweifeln“.Footnote 18 Das Erleben der Hauptfigur wird daher zunächst mit dem Standpunkt des Erzählers unreflektiert gleichgesetzt und erst später als Irrtum entlarvt.
Zur sachgerechten Identifikation solcher Unzuverlässigkeit hat Ansgar Nünning in Anknüpfung an Booths Konzept die Forderung nach allgemeingültigen Bewertungsmaßstäben aufgestellt, anhand derer eine Erzählung als zuverlässig oder vertrauenswürdig beurteilt werden kann. Der Begriff des unzuverlässigen Erzählers setze „einen normativen oder moralischen Maßstab voraus, der als Referenzfolie für die Beschreibung und Bewertungen der Deviationen eines Erzählers fungiert“.Footnote 19 Nünning schlägt zwei Anhaltspunkte für eine solche Prüfung vor: Zum einen seien dies textimmanente Signale wie z.B. „explizite Widersprüche des Erzählers und andere interne Unstimmigkeiten innerhalb des narrativen Diskurses, …, multiperspektivische Auffächerung des Geschehens und Kontrastierung unterschiedlicher Versionen desselben Geschehens, Häufung von sprecherzentrierten Äußerungen sowie linguistische Signale für Expressivität und Subjektivität, … Ausrufe, Ellipsen, Wiederholungen“.Footnote 20 Solche Textsignale sind in der Korneliuserzählung vielfach zu finden. Einige von ihnen sollen in diesem ersten Abschnitt benannt werden. Als zweites Kriterium schlägt Nünning vor, die textimmanenten Norm- und Wertaussagen mit den tatsächlich geltenden Normen und Werten der erzählten Welt oder des Autors abzugleichen. Dies soll im zweiten Abschnitt dieser Untersuchung geschehen.
Die textimmanenten Spannungen und Widersprüchlichkeiten der Korneliuserzählung sind in der Literatur vielfach benannt worden. Martin Dibelius erklärte sie in seiner einflussreichen formgeschichtlichen Analyse als Ergebnis einer redaktionellen Verknüpfung zweier unterschiedlicher Überlieferungen.Footnote 21 Neuere Ansätze gehen jedoch davon aus, dass die Widersprüchlichkeiten zum einen durch die Komplexität der im Hintergrund stehenden Konflikte selbst,Footnote 22 zum anderen aber auch als ein bewusst gewähltes Stilmittel des Autors zu erklären seien. „Readers can enjoy the ignorance of Cornelius and the perplexity of Peter without worry … Peter's confusion is a Lucan device“.Footnote 23 Hinzu treten sprachliche Uneindeutigkeiten und rätselhafte Bilder, die für Leserinnen und Leser zunächst ebenso unverständlich bleiben wie für die handelnden Personen (Apg 10,20). Die Deutung der Bilder geschieht, anders als in der Apokalyptik, nicht in vereindeutigender Weise durch einen angelus interpres, sondern entfaltet sich erst im Lauf der Erzählung „through the meditation, speeches and unfolding events enacted by the human players of the drama“,Footnote 24 wodurch menschliche Irrtümer und Fehldeutungen nicht ausgeschlossen sind. Die bereits erwähnten Elemente von Witz, Humor und Ironie in anderen Petrusgeschichten der ApostelgeschichteFootnote 25 unterstreichen die Unzuverlässigkeit des Erzählten weiter: „Die Demarkationslinie zwischen Humor und Ernst ist kaum sicher auszumachen. Ironie lebt davon, dass man nie genau weiß, ob man ihr gerade zum Opfer fällt“,Footnote 26 und „Lukas weiß, dass eine Prise Humor Spannungen sowohl verschärfen als auch mildern kann“.Footnote 27 Auch John Moxons Vorschlag, die Vision als Alptraum eines hungergeschwächten Petrus zu verstehen, attestiert der Erzählung humorvolle Elemente: „… extremes of hunger could cause bizarre dreams …, humourously matching the wild ‘spread’ in the vision“.Footnote 28 „Intended irony“,Footnote 29 „suspense and mystery“,Footnote 30 „riddling“Footnote 31, „enigmatic speech“Footnote 32 und „levels of opacity“Footnote 33 sind weitere Charakterisierungen, mit denen die Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit des Textes in der Literatur beschrieben wird. Es ist daher berechtigt, die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Erzählung und des Erzählten zu stellen.
Zu diesen Merkmalen der Ambiguität, der Ironie und des Humors tritt ergänzend hinzu, dass die Figur des Petrus nicht nur bei Lukas,Footnote 34 sondern auch in anderen frühchristlichen Überlieferungen wiederholt als unzuverlässig charakterisiert wird:
… a pattern can be discerned … Peter intends to do something positive on behalf of Jesus, with a certain understanding of what is or what is not appropriate, only to be corrected or to be proven wrong … His repeated failure to act as a faithful disciple is not due to a lack of desire, but a lack of understanding combined with his brashness and over-confidence in his own ability.Footnote 35
Jack Gibson geht zwar davon aus, dass dieses Verhaltensmuster des Petrus mit der Geistbegabung in Apg 2 ihr Ende finde.Footnote 36 Die harsche Reaktion des Petrus auf die Bitte des Simon in Apg 8,20 (mit anschließender Korrektur in 8,24) zeigt jedoch, dass das von Gibson identifizierte Muster sich auch über Apg 2 hinaus fortsetzt. Petrus bleibt also in der Rolle der übermäßig bemühten, aber in ihrem Urteil oft fehlgeleiteten tragischen Heldenfigur. Auch dies verstärkt den Verdacht der Unzuverlässigkeit.
Ein weiterer Hinweis auf unzuverlässige Erzählung ist die Diskrepanz zwischen dem erzählten Geschehen selbst und den vom Erzähler eingeflochtenen Interpretationen und Bewertungen dieses Geschehens.Footnote 37 In der Korneliuserzählung wird diese Diskrepanz vor allem dadurch erzeugt, dass Wertungen und Normaussagen durchgängig in die Gestalt von Figurenrede gekleidet werden. Darüber hinaus sind sie durch hohe sprachliche Ambiguität gekennzeichnet, so dass eine Normaussage oft nur implizit angedeutet, aber selten explizit benannt wird. Insgesamt sieben Aussagen innerhalb des Textes werden in der Literatur als Normaussage oder Ausdruck einer Normverletzung gedeutet.
1.1 θῦσον καὶ φάγε (Apg 10,13 par. 11,7)
Diese Anweisung wird in der Auslegung durchweg als Aufforderung zur Normverletzung verstanden, entweder als faktische Aufhebung der SpeisegeboteFootnote 38 oder zumindest als metaphorische Anweisung zum Normbruch, die jedoch dann im Bildbereich verbleibt.Footnote 39 Streng genommen beinhaltet die Formulierung jedoch keine Aufforderung, unreine Tiere zu essen.Footnote 40 Textimmanente Signale deuten vielmehr darauf hin, dass Petrus hier unterscheiden und auswählen soll.Footnote 41 Eine Vereindeutigung, die diese Option ausschließt, geschieht erst durch die Reaktion des Petrus in 10,14.
1.2 μηδαμῶς, κύριε, ὅτι οὐδέποτε ἔφαγον πᾶν κοινὸν καὶ ἀκάθαρτον (Apg 10,14)
Petrus scheint die Vision als Aufforderung zu deuten, Unreines zu essen. Diese Deutung jedenfalls schließen die meisten Ausleger aus der Reaktion des Petrus.Footnote 42 Bei genauer Betrachtung bleibt jedoch auch hier eine Mehrdeutigkeit: Benannt wird lediglich die bisherige Normkonformität des Petrus und die Weigerung, dem Befehl zu folgen, nicht aber ein Urteil des Petrus über die angebotenen Speisen selbst. Drei Möglichkeiten werden dadurch eröffnet: (i) 10,13 ist in der Tat eine Aufforderung zum Normbruch und wird von Petrus zurückgewiesen; (ii) 10,13 ist eine Aufforderung, auszuwählen, wird aber von Petrus als Aufforderung zum Normbruch missverstanden;Footnote 43 (iii) Petrus versteht 10,13 als Aufforderung, auszuwählen, weist diese aber zurück, um einen versehentlichen Normbruch zu vermeiden.Footnote 44
1.3 ἃ ὁ θεὸς ἐκαθάρισεν (Apg 10,15 par. 11,9)
Auch hier besteht Einmütigkeit darüber, dass der Ausdruck einen faktischen Bruch oder zumindest eine Veränderung biblischer Normen beschreibt: Unreine Tiere werden von Gott für rein erklärt. Diskutiert wird dabei lediglich, wann und wodurch dies geschehen ist: Ausleger verweisen auf das Jesuswort aus Mk 7,15.19cFootnote 45 oder auf eine reinigende Wirkung des Kreuzestodes.Footnote 46 Am häufigsten wird jedoch Apg 10,13 als eine Art performativer Sprechakt verstanden: „Die Antwort auf die Frage, wann und wie Gott die unreinen Tiere gereinigt hat, muß wohl lauten: eben durch das Gesicht und den es begleitenden Befehl.“Footnote 47 V. 13 sagt dies jedoch gerade nicht: „Indeed, were a divine fiat ending the covenant to be conceived, it would be difficult to imagine it assuming this form.“Footnote 48 Weder V. 13 noch V. 15 sprechen von einer Veränderung der Reinheitskategorien. Die Formel ἃ ὁ θεὸς ἐκαθάρισεν ist daher schlicht als Verweis auf die biblischen Reinheitsgebote zu verstehen, in denen Gott bestimmte Tierarten „für rein erklärt“ hat.Footnote 49
1.4 μηδὲν διακρινόμενος (Apg 10,20 par. 11,12)
Manche Auslegungen lesen in dieser Parenthese die Aufforderung an Petrus, die Unterscheidung zwischen rein und unrein aufzugeben.Footnote 50 Der Ausdruck διακρίνω, der die gesamte Erzählung durchzieht,Footnote 51 ist allerdings „multivalent“Footnote 52 und kann hier auch einfach die Aufforderung bedeuten, zunächst auf eine Klärung der unverständlichen Vision zu verzichtenFootnote 53 oder nicht mit den Boten des Kornelius über ihr Ansinnen zu argumentieren.Footnote 54 Ein Normbruch oder eine Normveränderung ist nicht impliziert.
1.5 ἀθέμιτόν ἐστιν ἀνδρὶ Ἰουδαίῳ κολλᾶσθαι ἢ προσέρχεσθαι ἀλλοφύλῳ (10,28a)
Dieser Satz benennt deutlicher als die übrigen eine Normverletzung und bezieht sich auf das εἰσῆλθεν aus 10,27: Nach Aussage des Petrus ist Sozialkontakt mit Nichtjuden für einen jüdischen Mann intolerabel. Die faktische Richtigkeit dieser Aussage wird in der Literatur kaum in Frage gestellt.Footnote 55 Aber bei näherer Betrachtung bleibt auch diese Aussage mehrdeutig. Zunächst handelt es sich auch hier um Figurenrede, so dass verschiedene Deutungen möglich sind:
(a) Petrus formuliert eine allgemein gültige halachische Norm
(b) Petrus formuliert seine eigene (bisherige) Überzeugung
(c) Petrus formuliert die Überzeugung seiner Zuhörergruppe (ὑμεῖς ἐπίστασθε)
(d) Petrus formuliert die Überzeugung anderer Gruppen (vgl. Apg 11,2–3)
Ob eine allgemein gültige halachische Norm zum Verbot des Sozialkontakts im ersten Jahrhundert tatsächlich existierte, wird später noch zu fragen sein. Hier genügt es zunächst, die Subjektivität des Werturteils auf der Erzählebene wahrzunehmen. Diese spiegelt sich auch in der ungewöhnlichen Wortwahl ἀθέμιτος wider, die vom sonst üblichen lukanischen Vokabular für halachische Verbote (ἔξεστιν, Lk 6,2.9; 14,3) oder andere rechtliche Vorschriften (ἐπιτρέπω, Apg 22,25 und 26,1; δύναμαι und ἀδικέω, Apg 25,11) abweicht. Anders als diese rechtlich geprägten Begriffe bezeichnet ἀθέμιτος eher die Verletzung religiöser oder moralischer Empfindungen. Diese können zwar auch in entsprechenden Gesetzen kodifiziert sein,Footnote 56 müssen es aber nicht.Footnote 57 Im Vordergrund steht, auch bei den rechtsrelevanten Belegstellen, die mit dem Rechtsbruch verbundene emotionale Abscheu (im Sinne von verpönt, unerhört, verwerflich, abscheulich, undenkbar, intolerabel). Ob 10,28a also einen tatsächlichen Rechtsbruch oder lediglich eine Verletzung religiöser Empfindungen bzw. sozialer Schranken benennt, wird noch zu prüfen sein.
1.6 μηδένα κοινὸν ἢ ἀκάθαρτον λέγειν ἄνθρωπον (10,28b)
Viele Auslegungen verstehen diese Aussage als Normveränderung: „Gott hat das Unreine ‚rein gemacht‘“.Footnote 58 Ungefragt wird dabei vorausgesetzt, dass Nichtjüdinnen und Nichtjuden in der jüdischen Welt tatsächlich als unrein galten.Footnote 59 Diese Zuschreibung sei nun durch die Himmelsstimme aufgehoben oder für ungültig erklärt worden, so dass „der Unreine jetzt als rein gelten darf“.Footnote 60 Eben diesen zeitlichen Aspekt einer Neuerung oder Veränderung („jetzt“) enthält der Satz allerdings nicht. Auch vorher wird im lukanischen Doppelwerk nirgends die Vorstellung erkennbar, dass nichtjüdische Personen unrein seien. Weiter unten wird deutlich werden, dass ein verbindliches halachisches Konzept zur „Unreinheit von Nichtjuden“ im ersten Jahrhundert noch nicht existierte. Petrus formuliert hier also keine Normveränderung, sondern eine Einsicht in den halachischen status quo.
1.7 εἰσῆλθες πρὸς ἄνδρας ἀκροβυστίαν ἔχοντας καὶ συνέφαγες αὐτοῖς (11,3)
Auch diese Aussage formuliert für sich genommen keine Normverletzung. Erst durch die vorangestellte Einleitung in 11,2 tritt eine Wertung hinzu, wobei mit διεκρίνοντο wieder eine bewusste Mehrdeutigkeit geschaffen wird, die offene Kritik oder auch eine klärende Frage bezeichnen kann. Inhaltlich wird die in 10,28a formulierte Ablehnung von Sozialkontakten aufgegriffen (εἰσῆλθες) und durch den Aspekt der Tischgemeinschaft (συνέφαγες) erweitert. Diese wird zwar im Vorangehenden nicht erzählt, kann aber wohl sachlich vermutet werden.Footnote 61 Die Diskrepanz zwischen Vorwurf und tatsächlich erzähltem Hergang kann ein erzählerisches Mittel sein, die Glaubwürdigkeit des Vorwurfs zu hinterfragen. Viele Ausleger leiten jedoch aus dem subjektiven Vorwurf auch objektiv den Tatbestand eines Normbruchs ab.Footnote 62 Andere gehen davon aus, dass zwar nicht die Tischgemeinschaft an sich untersagt war, sie aber unweigerlich die Verletzung anderer halachischer Gebote wie der SpeisetoraFootnote 63 oder der ReinheitstoraFootnote 64 nach sich zog.
Der Durchgang durch die sieben halachisch relevanten Aussagen der Erzählung zeigt, dass viele Ambiguitäten bleiben: Zum einen sind alle Aussagen in Figurenrede gekleidet und damit nicht ungeprüft mit dem Urteil des Erzählers gleichzusetzen. Zum zweiten bleiben die Formulierungen oft mehrdeutig, und Normverletzungen oder Normveränderungen werden in den meisten Fällen bestenfalls indirekt angedeutet, mit Ausnahme von 10,28a jedoch nie klar als solche benannt.
2. Die außertextliche Welt als Bezugsgröße textimmanenter Normaussagen
Nünning schlägt vor, als Prüfkriterium der Zuverlässigkeit einer Erzählung nicht nur textimmanente Inkonsistenzen, sondern auch außertextuelle Bezugsrahmen heranzuziehen, etwa „das allgemeine Weltwissen und die Werte und Normen eines Rezipienten“, vor allem „moralische und ethische Maßstäbe, die in ihrer Gesamtheit das in einer Gesellschaft vorherrschende Werte- und Normensystem konstituieren“, aber auch „intertextuelle Bezugsrahmen, d.h. Referenzen auf spezifische Prätexte“.Footnote 65 Übertragen auf die außertextuelle Welt des lukanischen Doppelwerks müssen die textimmanenten Normaussagen der Erzählung also sowohl anhand der zugrundeliegenden biblischen PrätexteFootnote 66 als auch anhand der halachischen Realitäten des ersten Jahrhunderts geprüft werden. Dabei ist im Blick auf die biblischen Prätexte nicht nur eine Vertrautheit des AutorsFootnote 67 und seiner intendierten LeserschaftFootnote 68 mit der LXX und mit jüdischen Lebenswelten vorauszusetzen, sondern auch eine hohe Zuschreibung von Autorität gegenüber den Schriften Israels.Footnote 69 Im Blick auf die halachischen Realitäten des ersten Jahrhunderts erlaubt die begrenzte und zugleich diverse Quellenlage nur vorsichtige Urteile: Eine Vereinheitlichung der Halacha, wie sie sich in der späteren rabbinischen Literatur herausbildet, ist für die Zeit des Neuen Testaments noch nicht vorauszusetzen. Vielmehr ist mit offenen halachischen Diskursen in einzelnen Fragen zu rechnen.Footnote 70 Zwischen der halachischen Praxis der erzählten Welt und der Welt der Lesenden muss dabei unterschieden werden, wobei die zeitliche und kulturelle Distanz zwischen beiden in der Literatur unterschiedlich bemessen wird.Footnote 71 Für Autor und Leserschaft der Apg ist aber davon auszugehen, dass sich der Trennungsprozess zwischen Judentum und entstehender christlicher Gemeinde noch „in einem unabgeschlossenen Stadium befindet“,Footnote 72 so dass die im Text verhandelten Normkonflikte auch noch für die Lebenswelt der Leserschaft als bekannt und relevant vorausgesetzt werden können.Footnote 73
2.1 Die Frage nach Speisegeboten
Speisegebote werden im vorliegenden Text ausschließlich in der Visionserzählung (Apg 10,9–16) thematisiert und spielen im weiteren Verlauf der Erzählung keine Rolle mehr.Footnote 74 Die Unterscheidung zwischen reinen und unreinen Tieren geht auf biblische Prätexte zurück und erhielt in der hellenistischen Zeit zusätzliche identitätsstiftende Bedeutung.Footnote 75 Weitreichende Geltung und WirksamkeitFootnote 76 dieser Unterscheidung können daher für die jüdische Gemeinschaft sowohl im Land Israel als auch in der Diaspora vorausgesetzt werden. Eine Infragestellung oder sogar Aufhebung dieser Gebote wäre schon deshalb eine sehr gewichtige Normveränderung, so dass es fraglich ist, ob sie in der vorliegenden Weise durch eine mehrdeutige Vision und eher beiläufig erzählt würde.Footnote 77 Im weiteren Verlauf der Apg ist eine grundsätzliche Abkehr von Speisevorschriften an keiner Stelle erkennbar, die Konflikterzählung in Apg 15 zeigt, dass ihre Befolgung für Juden selbstverständlich blieb und nur für Nichtjuden strittig war.Footnote 78
Abgesehen davon wurde bereits oben deutlich, dass der Wortlaut von Apg 10,13 keine Aufforderung zur Normverletzung enthält: Mit der Formulierung πάντα τὰ τετράποδα καὶ ἑρπετὰ τῆς γῆς καὶ πετεινὰ τοῦ οὐρανοῦ (Apg 10,12) wird vielmehr ein intertextueller Bezugsrahmen zu biblischen Texten hergestellt. In der Literatur wird dabei vor allem auf Gen 1,24.28.30 und Gen 6,20 verwiesen. Die Überschneidungen sind hier allerdings nur lose. Die für Apg 10,12 charakteristische Dreiheit von τετράποδα, ἑρπετά und πετεινά etwa findet sich in dieser Form in keinem dieser Verse: Die Schöpfungserzählung kennt eine Zweiteilung (Gen 1,20), eine Dreiteilung (Gen 1,21.30) und eine Vierteilung von Tierarten (Gen 1,26.28),Footnote 79 bei denen zwar jeweils ἑρπετά und πετεινά, aber nie τετράποδα angeführt werden.Footnote 80 τετράποδα werden dafür in einer anderen Dreiteilung (Gen 1,24) zusammen mit ἑρπετά, aber ohne πετεινά genannt. Die DreiteilungenFootnote 81 und VierteilungenFootnote 82 der Fluterzählung, in der die Wassertiere jeweils fehlen, entsprechen inhaltlich, aber nie im Wortlaut der Dreiteilung von Apg 10,12. Vor allem fehlen auch hier τετράποδα.
Eine deutlich engere Parallele zu Apg 10,12 findet sich hingegen in Lev 11, und zwar gleich mehrfach: Hier wird eine Dreiteilung von ἑρπετὰ, πετεινά und τέσσαρες πόδες bzw. in geringer Abwandlung ἑρπετά, πετεινά und ἃ πορεύεται ἐπὶ τέσσαρα formuliert. Zwar bezeichnen die Begriffe hier nicht drei unterschiedliche Gruppen von Tierarten, sondern jeweils Tierarten, auf die alle drei Merkmale (Flügel, Kriechen, vier Beine) zugleich zutreffen. Dennoch sind die wörtlichen Anklänge an Apg 10,12 hier am dichtesten (vgl. Tabelle 1).
Obwohl also die Vielfalt der Tierwelt aus den Schöpfungsberichten im Hintergrund von Apg 10,12 anklingt, bildet die Reinheitstora von Lev 11 den normativen Prätext für die Deutung der Vision. Dies wird auch textimmanent dadurch bestätigt, dass sowohl Petrus als auch die himmlische Stimme anschließend die Unterscheidung von rein und unrein thematisieren. Ist der Befehl θῦσον καὶ φάγε (10,13) aber deshalb als Aufforderung zu verstehen, sowohl Reines als auch Unreines zu essen? Eine sachliche Parallele aus einem späteren rabbinischen Midrasch könnte verdeutlichen, dass ein anderer Sinn wahrscheinlicher ist. Von R. Meir wird überliefert:
Ein Nichtjude in unserer Stadt gab den Ältesten ein Gastmahl und lud mich mit ihnen ein. Man brachte vor uns von allem, was Gott in den sechs Tagen der Schöpfung erschaffen hatte.Footnote 83
Was hier beschrieben wird, ist eine Konfliktsituation, wie sie Jüdinnen und Juden vermutlich öfters erlebten, wenn sie enge Sozialkontakte zu Nichtjüdinnen und Nichtjuden pflegten: Es wird eine Vielzahl von Speisen angeboten, aus denen die erlaubten ausgewählt werden müssen, will man nicht unhöflich sein und alles ablehnen.Footnote 84 Diese Notwendigkeit der Unterscheidung wird bereits in Lev 11 ausdrücklich den Bestimmungen über reine und unreine Tiere hinzugefügt:
Das ist das Gesetz von den vierfüßigen Tieren und Vögeln und von allen Tieren, die sich regen im Wasser, und von allen Tieren, die auf der Erde kriechen, auf dass ihr unterscheidet, was unrein und rein ist (διαστεῖλαι ἀνὰ μέσον τῶν ἀκαθάρτων καὶ ἀνὰ μέσον τῶν καθαρῶν) und welches Tier man essen und welches man nicht essen darf. (Lev 11,46–7)
Die Aufforderung θῦσον καὶ φάγε in Apg 10,13 kann also zunächst schlicht als Bild einer solchen Unterscheidungssituation verstanden werden. Die Möglichkeit der Auswahl wird durch die Erzählung nicht ausgeschlossen,Footnote 85 sondern sowohl durch den intertextuellen Verweis auf Lev 11 als auch durch die vorangehende Einleitung Apg 10,1–8 sogar nahegelegt. Dass ein Besuch im Haus eines Nichtjuden bevorsteht, ist den Leserinnen und Lesern bereits vor Augen, der Erzählfigur Petrus jedoch fehlt dieser wichtige Deutungshorizont noch. Die Kooperation zwischen Autor und Leserschaft „hinter dem Rücken“Footnote 86 des Protagonisten bereitet so das nachfolgende Missverständnis vor. Anstatt zwischen rein und unrein zu unterscheiden, lehnt Petrus pauschal alle Speisen, reine wie unreine, und damit die gesamte Vielfalt der Schöpfung, ab.Footnote 87 Diese überzeichnete Abwehrreaktion, die weit über das in der Tora geforderte Maß an Abgrenzung hinausgeht, fügt sich nicht nur in das Gesamtbild der frühen Petrusüberlieferung ein,Footnote 88 sondern findet auch ihre Entsprechung im weiteren Verlauf der Erzählung: Denn auch beim Sozialkontakt zwischen Juden und Nichtjuden geht es um die Frage, ob die Zurückweisung des Sozialkontakts über das hinausgeht, was das Gesetz fordert.
Die Himmelsstimme in 10,15 entlarvt das Vermeidungsverhalten des Petrus als Fehlurteil. Die Aussage ἃ ὁ θεὸς ἐκαθάρισεν (10,15) muss dabei weder auf einen vermeintlichen performativen Sprechakt in 10,13 bezogen werden,Footnote 89 noch auf eine heilsgeschichtliche Wende, durch die biblische Reinheitsgebote aufgehoben werden.Footnote 90 Sie verweist vielmehr auf den biblischen Prätext aus Lev 11, der bereits durch intertextuelle Anklänge aufgerufen wurde, und stellt fest, dass Petrus mit seiner Ablehnung auch solche Speisen als unrein zurückweist, die von Gott als rein bezeichnet werden.Footnote 91
2.2 Die Frage nach der Unreinheit von Nichtjuden
Die Übertragung aus der Bildebene (Unterscheidung zwischen Tieren) in die Sachebene (Unterscheidung zwischen Menschen) ist für Petrus vorerst noch nicht absehbar, weshalb die Vision für ihn zunächst unverständlich bleibt (10,20). Für die Lesenden wurde sie bereits vorher erkennbar, und wird hier noch einmal durch das mehrdeutige μηδὲν διακρινόμενος verstärkt.Footnote 92
In der Folge wird Petrus jedoch der Bezug zur Einladung bei Kornelius deutlich: Es geht um die Frage der Unreinheit von Nichtjuden. Diese wird von Auslegerinnen und Auslegern meist selbstverständlich vorausgesetzt, oft unter Verweis auf Apg 10,28b. Jedoch formuliert Petrus dort ja gerade keine Halacha zur „Unreinheit von Nichtjuden“, sondern bestreitet sie: In der Tat ist ein entsprechendes Konzept der Tora fremd, und auch im halachischen Diskurs des ersten Jahrhunderts ist es weder vollständig herausgebildet noch unumstritten.
In den Reinheitsbestimmungen der Tora findet sich, anders als im Blick auf Tiere, keine kategoriale Einteilung von Menschen in rein und unrein. Hier unterscheidet sich die Reinheitstora fundamental von der Speisetora. Sie gründet sich auf andere Gesetzeskorpora und setzt ein deutlich anderes Verständnis von Reinheit und Unreinheit voraus. Unterschiede lassen sich vereinfacht wie in Tabelle 2 skizzieren.Footnote 93
Keine dieser beiden Korpora betrifft Nichtisraeliten. Diese können weder rein noch unrein sein. Das Konzept einer „Unreinheit von Nichtjuden“ (gentile impurity) bildet sich erst in nachbiblischer Zeit heraus, bleibt aber bis in rabbinische Zeit hinein umstritten und unscharf. Entstehungszeit und Herleitung sind in der Forschung umstritten, die drei wichtigsten Erklärungsmodelle lassen sich schematisch wie in Tabelle 3 darstellen.
1 Ursprünge seien zwar bereits in hasmonäischer Zeit erkennbar, bezogen sich dort jedoch zunächst nur auf die Frage nach der Verunreinigung durch Menstruationsblut nichtjüdischer Frauen. Vgl. A. Büchler, „The Levitical Impurity of the Gentiles in Palestine Before the Year 70“, JQR 17 (1926–7) 1–81. H. Maccoby, Ritual and Morality: The Ritual Purity System and its Place in Judaism (Cambridge: Cambridge University Press 1999) 8–12.
2 G. Alon, „The Levitical Uncleanness of Gentiles“, Tarbiz 8 (1937–8) 137–61, nachgedruckt in ders., Jews, Judaism, and the Classical World: Studies in Jewish History in the Times of the Second Temple and the Talmud (Jerusalem: Magnes Press, 1977) 146–98; V. Noam, „‘The Gentileness of the Gentiles’: Two Approaches to the Impurity of Non-Jews“, Halakhah in Light of Epigraphy (hg. A. I. Baumgarten/H. Eshel/R. Katzoff et al.; Göttingen; Vandenhoeck & Ruprecht, 2011) 27–41.
3 J. Klawans, „Notions of Gentile Impurity in Ancient Judaism“, AJS Review 20 (1995) 285–312; C. Hayes, Gentile Impurities and Jewish Identities: Intermarriage and Conversion from the Bible to the Talmud (Oxford: Oxford University Press, 2002); ähnlich auch M. Zetterholm, „Purity and Anger“, IJRR 1 (2005) 2–24, mit einem Blick auf die Auseinandersetzungen um die Tischgemeinschaften in Antiochia.
Die Erzählung von Petrus und Kornelius spiegelt vor diesem Hintergrund möglicherweise die Umstrittenheit des noch im Werden begriffenen Konzepts einer „Unreinheit von Nichtjuden“ auch im Umfeld der entstehenden christlichen Gemeinden wider: Der Verweis auf den biblischen Prätext aus Lev 11 macht deutlich, dass die Tora zwar zwischen reinen und unreinen Tieren unterscheidet, aber eben nicht kategorial zwischen reinen und unreinen Menschen. Diese Einsicht ergibt sich allerdings nach anfänglicher Unklarheit (Apg 10,20) erst allmählich und im Rückblick. Petrus formuliert diese Einsicht in 10,28b. Eine Normverletzung oder Normveränderung findet hier nicht statt, wohl aber eine Vereindeutigung der Norm innerhalb eines noch unabgeschlossenen halachischen Diskurses.
2.4 Die Frage nach dem Sozialkontakt zwischen Juden und Nichtjuden
Viele Auslegungen sehen in der Erzählung die Aufhebung oder Verletzung eines vermeintlichen jüdischen „Kontaktverbots gegenüber der Völkerwelt“,Footnote 94 zumal dies auch von Petrus selbst in 10,28 formuliert wird. Das Betreten eines nichtjüdischen Hauses (10,27; 11,3) und die Tischgemeinschaft (11,3) wären dabei Sonderfälle dieses Kontaktverbots. Für Roloff bricht Petrus mit seinem Besuch bei Kornelius „das für jeden Juden geltende Verbot der Gemeinschaft mit Nichtjuden“.Footnote 95 Ute Eisen sieht im Überschreiten der Schwelle zum Haus des Kornelius (10,27) den eigentlichen Höhepunkt der gesamten Erzählung, da sich an dieser Stelle die entscheidende „Ordnungstransformation“ ereigne: „Die impermeable Grenze zwischen Israel und den Völkern ist aufgrund des [sic!] Intervention Gottes und des mutigen Schritt Petri überschreitbar geworden“.Footnote 96
Die Existenz eines solchen Kontaktverbots ist jedoch weder in biblischen Texten noch in frühjüdischer Literatur nachzuweisen.Footnote 97 Die Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden in der Antike sind komplex und vielschichtig.Footnote 98 In den Quellen findet sich ein breites Spektrum unterschiedlicher Ansichten über Möglichkeiten und Grenzen des Sozialkontakts: Jub 22,16Footnote 99 steht als extreme Einzelstimme am einen Ende des Spektrums. Am anderen Ende des Spektrums stehen vielfache Überlieferungen von Sozialkontakten, bei denen halachische Fragen in keiner Weise problematisiert werden.Footnote 100 Das Mittelfeld bilden einerseits solche Texte, in denen Sozialkontakte halachisch reguliert werden, um die Verletzung anderer halachischer Normen zu vermeiden,Footnote 101 und andererseits solche Texte, in denen vor solchen Begegnungen gewarnt wird, weil sie möglicherweise zur Verletzung anderer Normen führen könnten.Footnote 102 Beide Typen von Texten belegen jedoch, dass die Möglichkeit und Zulässigkeit der Begegnungen an sich nicht in Frage stand und sie offenbar zur alltäglichen Realität gehörten.
Auch die Tischgemeinschaft war Teil dieser Realität.Footnote 103 Eine Verletzung halachischer Normen war damit nicht notwendig verbunden: Der jüdische Gast konnte sein eigenes Essen mitbringen,Footnote 104 oder der Gastgeber servierte erlaubte Speisen.Footnote 105 In besonders strengen Fällen konnte der jüdische Gast an einem eigens für ihn gedeckten Tisch speisenFootnote 106 oder an der Tischgemeinschaft teilnehmen, ohne selbst zu essen.Footnote 107 Der Grad der Strenge variierte „from subgroup to subgroup“,Footnote 108 wobei nach Ansicht Freidenreichs judäische Quellen insgesamt eine strengere Handhabung wiederspiegeln als z.B. alexandrinische.Footnote 109 Zwar werde auch dort auf die Einhaltung der Speisegebote geachtet, über die Tora hinausgehende halachische Einschränkungen werden jedoch abgelehnt.Footnote 110 Auch in der späteren rabbinischen Überlieferung variieren die Haltungen von strenger AblehnungFootnote 111 bis zu selbstverständlicher Tischgemeinschaft, bei der Nichtjuden sogar eingeladen werden, den Tischsegen zu sprechen.Footnote 112
Ein Verbot, nichtjüdische Häuser zu betreten (vgl. oben zu 10,27 und 11,3) ist in jüdischen Quellen nicht nachzuweisen. Billerbeck führt hierzu als Beleg keine rabbinische Quelle, sondern lediglich Apg 10,28 an.Footnote 113 Einige wenige rabbinische Texte sprechen von einer möglichen Verunreinigung beim Besuch eines nichtjüdischen Hauses,Footnote 114 diese muss aber halachisch nicht gemieden werden.
Die Aussage des Petrus in Apg 10,28a und der Vorwurf seiner Gegner in Apg 11,3 stehen also nicht nur in Spannung zur bisher erzählten Welt und zum Norm- und Wertsystem des lukanischen Doppelwerkes,Footnote 115 sondern auch zur uns bekannten außertextlichen Welt, und damit auch zum „Weltwissen“ der Leserinnen und Leser. Beide Aussagen sind daher, wie auch schon Apg 10,14, als Beispiel „unzuverlässiger Erzählung“ zu verstehen: Petrus formuliert hier eine Ansicht, die sich im Verlauf der Erzählung als falsch erwiesen hat. Zwar mag es einzelne Gruppen gegeben haben, in denen der Sozialkontakt zu nichtjüdischen Menschen grundsätzlich gescheut wurde (ἀθέμιτος). Jub 22,16, Apg 10,28a und 11,3 sind allerdings die einzigen uns bekannten Beispiele, daher bildet die Aussage des Petrus in ihrer Pauschalität weder die Komplexität der historischen Realität noch die Haltung des lukanischen Doppelwerkes wider. Sie stellt vielmehr im Spektrum der halachischen Vielfalt eine Extremhaltung dar, die in dieser Erzählung zurückgewiesen wird: Weil die Schrift keinen kategorialen Unterschied zwischen reinen und unreinen Menschen kennt, kann auch der Sozialkontakt mit Nichtjuden nicht verboten sein. Damit ist weder eine Normveränderung noch eine Normverletzung formuliert, sondern eine halachische Position, die der Mehrheitsmeinung in den uns bekannten jüdischen Quellen entspricht.
3. Kodifiziertes Recht und gesellschaftliche Konvention in der Korneliuserzählung
Die Eingangsfrage, ob in der Korneliuserzählung halachische Normen verletzt oder aufgehoben werden, kann nunmehr differenzierter beantwortet werden. Nicht der Bruch mit biblischen Geboten oder halachischen Normen ist Inhalt der Erzählung, sondern eine genauere Differenzierung zwischen biblischem Gebot, halachischer Norm und gesellschaftlicher Konvention. Soziologische Konzepte von Norm und Devianz können dabei helfen, diese Differenzierung auch terminologisch zu präzisieren:
(a) Die Unterscheidung zwischen kriminellem und abweichendem Verhalten,Footnote 116 oder zwischen Gesetzesverletzung (Delinquenz) und „sozial abweichendem (und entsprechend sozial sanktioniertem) Verhalten“Footnote 117 macht deutlich, dass kodifiziertes Recht und gesellschaftliche Konvention nicht völlig deckungsgleich sind. Beide Bereiche überschneiden sich in der Regel weitgehend, jedoch existieren an den Rändern Bereiche von gesetzeswidrigem Verhalten, das gesellschaftlich weithin akzeptiert ist (z.B. Schwarzarbeit, Urheberrechtsverletzung), ebenso wie Verhalten, das zwar nicht gesetzwidrig ist, aber dennoch als abweichend gilt und auch sozial sanktioniert wird (z.B. Untreue in der Partnerschaft, Etikette). Im Blick auf die Normaussagen der Korneliuserzählung handelt es sich etwa bei der Unterscheidung zwischen reinen und unreinen Tieren (10,14–15) um kodifiziertes Recht, bei der Unterscheidung zwischen reinen und unreinen Menschen (10,28b) und bei der Kontaktvermeidung (10,28a und 11,3) jedoch um gesellschaftliche Konvention, wobei es im halachischen Diskurs erste Ansätze gab, das Konzept der „Unreinheit von Nichtjuden“ auch halachisch zu formalisieren.
(b) Siegfried Lamnek unterscheidet Normen nach Geltungsgrad, Wirkungsgrad und Sanktionierungsbereitschaft:Footnote 118 Im Fall der Idealnorm etwa stimmen alle drei Faktoren in hohem Grad überein. Bei einer Selbstverständlichkeitsnorm sind Geltung und Wirkung hoch, eine Sanktionierung geschieht aber in der Regel nicht. Eine Pseudonorm wird zwar weithin als gültig angesehen, aber kaum beachtet und auch nicht sanktioniert. Eine informelle Norm dagegen hat einen hohen Wirkungsgrad und wird streng sanktioniert, auch wenn sie keine formale Geltung hat. Die biblischen Speisegebote könnten im Licht dieser Terminologie als Selbstverständlichkeitsnorm verstanden werden, die Meidung von Sozialkontakten hingegen als informelle Norm, deren Wirkungsgrad sich regional unterscheidet. Im Fall der „Unreinheit von Nichtjuden“ sind Geltungs- und Wirkungsgrad aus den Quellen nur schwer zu erschließen. Die unterschiedlichen Normaussagen in Apg 10,1–11,18 spiegeln diese halachischen Uneindeutigkeiten wider, führen aber in beiden Fragen (Unreinheit und Sozialkontakt) zu einer Vereindeutigung.
(c) Im Blick auf die Konformität mit bestehenden Normen unterscheidet Günter Wiswede auf einer graduell zunehmenden Skala zwischen einer extremen bzw. geringen Non-Konformität, einer Normal-Konformität sowie einer geringen bzw. extremen Über-Konformität:Footnote 119 Während eine geringe Non-Konformität (versehentlicher oder gelegentlicher Gesetzesbruch) in der Regel durch den Normsetzer toleriert wird, greifen bei extremer Non-Konformität Sanktionen. Umgekehrt kann auch eine extreme Über-Konformität, also eine übersteigerte oder zwanghafte Beachtung von Normen, die weit über das durch die Norm geforderte Maß hinausgeht, ihrerseits wieder „zu einer Form der Abweichung“Footnote 120 werden. Jenseits des so beschriebenen Spektrums der Konformität können an den Rändern jeweils non-konforme oder über-konforme „Gegenkulturen“ entstehen, die die bestehende Norm nicht nur brechen oder übersteigern, sondern grundsätzlich in Frage stellen und eine Normveränderung anstreben.
Die altkirchliche und reformatorische Auslegung sah in der Korneliusepisode die Gründungserzählung einer non-konformen Gegenkultur, nämlich des entstehenden Christentums, das sich aus dem Normsystem jüdischer Gesetzestreue herauslöste und so die Mission in der nichtjüdischen Welt ermöglichte.Footnote 121 Andere Auslegungen sehen lediglich eine geringe Non-Konformität, die auf Teilaspekte jüdischer Speise- und Reinheitsvorschriften zumindest in solchen Situationen vorübergehend verzichtet, wo sie den Sozialkontakt oder die Tischgemeinschaft mit Nichtjuden verhindern oder erschweren.Footnote 122 Wieder andere Auslegungen bewerten die erzählten Vorgänge als normal-konform, insofern die Vision im metaphorischen Bereich verbleibt und die anschließende Handlung keine Verletzungen halachischer Normen enthält.Footnote 123 Aber auch hier verbleibt eine Spannung zwischen der (vermeintlich) extrem non-konformen Bildwelt der Vision und einer anschließenden normal konformen Übertragung in die Sachwelt.
4. Zusammenfassung und Ergebnis
Die vorliegende Untersuchung führt daher zu dem Ergebnis, dass auch die Vision selbst normal konform zu deuten ist: In Apg 10,13 wird Petrus nicht zum Verzehr verbotener Speisen aufgefordert, sondern zu einer angemessenen Unterscheidung zwischen rein und unrein und zu einer normal konformen Auswahl des Reinen. Dies geschieht durch einen für den Leser erkennbaren, für Petrus allerdings verborgenen, intertextuellen Verweis auf die kodifizierte Norm in Lev 11, die nicht nur definiert, „was Gott für rein erklärt hat“ (vgl. 10,15), sondern die Israeliten auch zur Unterscheidung auffordert (Lev 11,47). Die Reaktion des Petrus in 10,14 fällt hingegen extrem über-konform aus. Sie geht über die kodifizierte Norm hinaus und weist sowohl reine als auch unreine Speisen zurück. Die tadelnde Antwort in 10,15 macht deutlich, dass „überangepasste Normkonformität auch zu einer Form der Abweichung werden kann“.Footnote 124 Es ist diese Unterscheidung zwischen normal-konformem und extrem über-konformem Verhalten, die das tertium comparationis der Vision darstellt: Ein im Entstehen befindliches, aber noch nicht formalisiertes Konzept der „Unreinheit von Nichtjuden“, wird unter Verweis auf biblische Prätexte und das Wirken des Geistes zurückgewiesen.
Eine Vermeidung von Sozialkontakten und Tischgemeinschaft (Jub 22,16) existierte darüber hinaus offenbar auch in manchen Gruppen im Umfeld der frühchristlichen Gemeinde (Apg 10,28a und 11,2–3) als informelle Norm, die zwar nicht gesetzeswidriges, aber doch sozial abweichendes und sozial sanktioniertes Verhalten (ἀθέμιτος) beschrieb.Footnote 125 Halachisch verboten wäre ein Sozialkontakt zwar selbst dann nicht, wenn das Konzept einer „Unreinheit von Nichtjuden“ als Norm akzeptiert würde. Denn Verunreinigung ist halachisch nicht verboten, sondern wird allenfalls gemieden. Wo soziale Abgrenzung dennoch gefordert wird, ist dies daher nur als Ausdruck einer extrem über-konformen Haltung zu verstehen, die den an sich erlaubten Sozialkontakt vermeidet, um andere Normverletzungen (Assoziation mit Fremdgötterverehrung, versehentliche Verletzung von Speisegeboten) zu vermeiden.
Die Korneliuserzählung stellt solches, auf informellen Normen beruhendes Abgrenzungs- und Vermeidungsverhalten in Frage, indem sie auf die formelle Norm der Tora verweist. Nicht der Bruch mit der Tora, sondern gerade der Verweis auf die Tora ist es also, der Petrus zu seiner in 10,28b formulierten Einsicht führt. Das über-konforme Verhalten des Petrus in 10,14 ist dementsprechend ebenso wie die in 10,28a formulierte informelle Norm als Beispiel unzuverlässiger Erzählung zu deuten: Beide werden rückblickend als Fehl- und Vorurteile entlarvt, die Leserinnen und Leser im Verlauf der Erzählung zusammen mit der Hauptfigur zu überwinden lernen. Nicht der Normbruch, sondern die Fähigkeit, genauer zu unterscheiden, ist das Ziel der Erzählung: Gott unterscheidet in der Tora zwar zwischen reinen und unreinen Tieren, aber eben nicht zwischen reinen Israeliten und unreinen Fremdvölkern, und daher auch nicht zwischen reinen Juden und unreinen Nichtjuden. Eine Mission unter den nichtjüdischen Völkern ist daher nach Darstellung des Erzählers ohne halachische Normverletzung oder Normveränderung möglich.