Brechts Bestie: Umwege und Irrwege der Kunst, die Wirklichkeit Zu erfassen oder Erzählen als Diskurs. Fragen Zu Einer Offenen Dialektik des Ästhetischen
Published online by Cambridge University Press: 09 April 2021
Summary
Prolog: Straßenszene und Mauerschau als Modelle des Erzählens
Mein Vortrag betrifft das Feld wissenschaftlich-künstlerischer Forschung und ist ein Versuch, Erkenntnisse aus der künstlerischen Praxis zu gewinnen, und umgekehrt, in die künstlerische Praxis einzubringen. Brechts Erzählung Die Bestie ist als Vorlage besonders geeignet, weil sie Fragen künstlerischer Gestaltung zum Gegenstand hat. In der Erzählung be schreibt Brecht eine Probensituation im Rahmen einer Film-Produktion—ein Casting besonderer Art. Es geht um die Rolle des Gouverneurs Muratov—verrufen als brutaler “Schlächter” während der Pogrome in Südrussland vor dem ersten Weltkrieg—und die Versuche des ehemaligen Gouverneurs selbst, diese Rolle zu “spielen.” Er bewirbt sich aufgrund seiner “Ähnlichkeit,” wird aber nicht erkannt—infolge seines Alters und seiner inzwischen desolaten und ärmlichen Verfassung; auch das “Bestialische” seines Wesens bleibt in einer banalen Alltäglichkeit verborgen. Die Erzählung stellt Fragen zu dieser Art Banalität und Konventionalität einer Existenz, in der “bestialische” Gedanken, Gefühle und Handlungen zu Hause sind, und Fragen zu den Möglichkeiten der Kunst, beides zu erfassen und zu vermitteln. Dabei geht es um die Opposition von schauspielerischer Gestaltung und der szenischen Rekapitulation von Ereignissen durch Betroffene bzw. verantwortlich Handelnde—aktuell: “Experten des Alltags,” d.h. auch um das Problem der ästhetischen Wirkung von Handlungen und Personen, die so sind, wie sie sind.
Brechts Erzählung entstand 1928. Sie knüpft in der Sache an verschiedene damals aktuelle Filme und Filmerzählungen an. In diesen Vorlagen ist das entscheidende “dramatische” Moment jeweils die Entdeckung der authentischen Person, der “Bestie,” im Verlauf der Proben. Brecht ist an diesem Effekt offensichtlich nicht interessiert. Die Aufdeckung erfolgt beiläufig am Schluss, und zwar ausschließlich für den Leser. Sie erfolgt auch weniger, um Ahnungen zu bestätigen, als um herauszustellen, dass sich hier ein Filmteam intensiv mit einer “authentischen” Person befasst—schlich gesagt: einem Verbrecher, ohne diese Person zu erkennen, selbst da nicht, wo sie sich in der Wahrnehmung von Augenzeugen “sehr naturge treu” verhält. Brecht interessiert dagegen offensichtlich eher die Diskrepanz zwischen Aspekten der Wirklichkeit und den Mitteln der Kunst, sie festzuhalten und zu gestalten.
Dieter Wöhrle hat 1988 die Erzählung als Beispiel “ästhetischer Filmkritik” untersucht und verwendet dort den charakteristischen Be griff “dialektischer Prosa.” Dieser Begriff verweist auf einen immanenten Charakter der Erörterung innerhalb einer Erzählung: ihre Diskursquali tät.
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- The Brecht Yearbook / Das Brecht-Jahrbuch 42Recycling Brecht, pp. 216 - 227Publisher: Boydell & BrewerPrint publication year: 2018