Interlude I: Wohnen im Schreiben oder Kein Schreibtisch nirgends
Published online by Cambridge University Press: 22 February 2024
Summary
In Berlin und somit gleichsam im Schatten des berühmten Hauses in der Chausseestraße gelangt man bei Brecht unversehens von den Bühnenmöbeln zum Exil und zu einem Wohnen, das, wie Lara Tarbuk gezeigt hat, auch ein Sich-Einrichten in einem weiteren und denkbar weiten Sinn impliziert— zumal, wenn damit verbunden ist, was man im Deutschen so sprechend einen Wohnsitz nennt, gesteigert: einen festen Wohnsitz. Dessen erst noch zu entdeckende Qualität beschreibt ein damals auch in Berlin und München lebender, insgesamt praktisch nie wohnender Dichter und Zeitgenosse Brechts in einem 1907 veröffentlichten Gedicht ohne Titel, es genügt hier vielleicht schon die erste Strophe, ein Dialog-Anfang:
Ich lehre dich den sanften reiz des zimmers
Empfinden und der trauten winkel raunen
Des feuers und des stummen lampen-flimmers
Du hast dafür das gleiche müde staunen
schreibt Stefan George, ein Autor, der wie gesagt, nie einen festen Wohnsitz und meist keine eigene Wohnung hatte. Das Gedicht erinnert spätestens mit der Strophenpointe des “staunen[s]” auch daran, dass das Wohnen vielerorts der Ausnahmefall ist, der Normalfall ein zumal in der Moderne zunehmendes Unbehaustsein. Nicht die vielbeschworene “transzendentale Obdachlosigkeit,” sondern ihr reales Gegenstück war und ist in den Städten allerorten zu sehen, erst recht in den Grenzzonen des heutigen Europas, wo Menschen an Zäunen stehen oder bestenfalls aus Plastikabfall zeltartige Gebilde herstellen können—unter, wie wir falsch sagen, freiem Himmel. “Wohnen bzw. Wohnraum ist nicht nur ein soziales, sondern zu jeder Zeit auch ein politisches Thema,” schreibt Birgit Johler und zitiert Äußerungen Wiener Politiker von 2017, die dafür plädieren, “Asylquartiere an den Rand der Großstadt” zu verlegen, wie schon 1938 die Vertreibung und Vernichtung der “Anderen” nicht nur in Wien von Beginn an deren Wohnraum betraf.
Entsprechend finden Brechts Flüchtlingsgespräche im Nachlass- Manuskript gleichen Titels aus der zweiten Hälfte der 1930er Jahre als Dialoge zweier Männer im Exil an einem besonderen Ort moderner Mobilität statt, in einem Bahnhofsrestaurant in Helsinki, über das es am Ende des Textes heißt, es sei ein “Lokal, das ihnen beiden wegen seiner Ungemütlichkeit lieb geworden war.” Um ein Buch zu schreiben, erfährt man dort, braucht es allerdings ein Zimmer—Lesen kann man dagegen die “schwedischen Zeitungen,” wie es an anderer Stelle heißt, auch im Freien, nämlich in einem Schaufenster, in dem “Bericht[e] über das Vorrücken der Deutschen in Frankreich ausgehängt” sind. In diesem doppelten Draußen warten die beiden und blicken “düster auf die staubigen Anlagen vor dem Außenministerium, wo sie die Aufenthaltsbewilligung erneuern lassen mussten.”
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- The Brecht Yearbook / Das Brecht-Jahrbuch 48 , pp. 89 - 94Publisher: Boydell & BrewerPrint publication year: 2023