Literary Essay: Das Einnehmen der Mitte für ihre Freiräumung—eine Wohnfibel gegen das bürgerliche Leben
Published online by Cambridge University Press: 22 February 2024
Summary
EXERCISES
PROLOG
Genug wäre gewonnen, wenn Wohnen und Bauen in das Fragwürdige gelangten und so etwas Denkwürdiges blieben
—Martin HeideggerA
AN-ORDNEN
Wie wohnen?—ist in einem bürgerlichen Sinn die Frage danach, wie sich Dinge und Subjekte ins Verhältnis setzen, sich zueinander anordnen. Vorausgesetzt man verfügt über einen Raum, der sich Wohnung nennen lässt. Das scheint die Grundvoraussetzung: “DIE WOHNUNG”—steht in großen Lettern auf einem Plakat der Werkbund Ausstellung 1927 in Stuttgart. Doch die Abbildung ist mit großer Verve—einem riesengroßem roten X— durchgestrichen. Die Wohnung rückt so in den Hintergrund, ein großzügiger Raum, ausladende Möbel, schwere Teppiche, Bilder und Ornamente sind nur noch schemenhaft zu erkennen. Oder besser: das X durchkreuzt das Bild und zeigt das Sujet nur noch in seiner Verneinung. Es bleibt sichtbar, aber ihm ist ein Widerstand eingeschrieben, eben jene Durchkreuzung. Über das Noch-Sichtbare steht in rot wie wohnen? geschrieben. Offenbar steht das Bewohnbare zur Disposition, die Wohnung selbst wird mit einem lautstarken Rot attackiert, in einer typographie spatialisée. Auf dem zugehörigen Erklärungstext ist Folgendes zu lesen: da den Arbeiter*innen “oft nur wenig Raum zur Verfügung” stünde, “sollten sie aufhören, die raumgreifenden Möbel des Bürgertums zu begehren.” Da möchte man fragen, warum man diese Art zu wohnen nicht begehren sollte, mehr noch: wer es überhaupt wagt, ihnen dieses Begehren abzusprechen. Zugleich stellt das etwas durchstreichende Rot zur Disposition, welche Bilder wir uns vom Wohnen machen, welchen Vorstellungen wir nacheifern und ob es nicht irgendwie anders sein könnte—wie wir wohnen. Nicht zuletzt geht es darum, ob es nicht überhaupt eine fehlgeleitete Annahme ist, dass die Arbeiter*innen begehrten so zu leben.
Oder Versatzstücke—es ist ein komplizierter Text—in seiner Anordnung. Die Suche nach der Unbestimmtheit des Wohnens förderte zwar unterschiedlichste Textstellen zu Tage, das Material sperrte sich jedoch gegen konsistente Zusammenhänge. Stattdessen formten die Schnipsel ein Alphabet des Wohnens, ein Nachschlagewerk, eine Wohnfibel—gegen das bürgerliche Leben. Allerdings steht das Alphabet selbst als unerträgliches in der Kritik: “Und das, was euch nichts / Ausmacht: dass der Regen / Von oben nach unten fällt / Das ist mir / Ganz unerträglich. Dass im / Alphabet / Nach A B kommt und nichts / Sonst.” Immerhin ist es für einen zusammenhängenden Text gänzlich ungeeignet: immer schon ist der Gedanke unterbrochen vom nächsten Buchstaben. Bestenfalls hält dies auf Trapp für das immer noch kommende Lektüre- oder Wohnereignis—um sich gar nicht erst im Text einzunisten.
- Type
- Chapter
- Information
- The Brecht Yearbook / Das Brecht-Jahrbuch 48 , pp. 135 - 160Publisher: Boydell & BrewerPrint publication year: 2023