Unglücklich der Held, dessen Land ihn nötig hat: Zur Ambivalenz des Heroischen bei Bertolt Brecht und zu ihrer Aktualität
Published online by Cambridge University Press: 22 February 2024
Summary
Seit der Antike verehren menschliche Gemeinschaften ihre herausragenden Mitglieder als Helden. Von den frühsten überlieferten Texten bis in die Debatten des digitalen Zeitalters verdichtet sich die menschliche Faszination für die Grenzen des Menschenmöglichen stets von neuem zu der Frage: “Was ist ein Held”? In jüngerer und jüngster Zeit erlebt diese Frage sowohl im öffentlichen Interesse als auch in der kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschung eine erstaunliche Konjunktur. Und wo sie gestellt wird, da kommt auch Bertolt Brecht ins Spiel. Zu Wort kommt er meist nur kurz und immer mit dem gleichen Satz. Aber der hat es in sich: “Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.”
Die folgenden Ausführungen sind geleitet von dem Gedanken, dass Brecht in den Debatten um die Aktualität der Figur des Helden eine wichtigere Rolle spielen sollte als bloß die des Stichwortgebers. Betrachtet man das Zitat, das in diesen Debatten so allgegenwärtig ist, in seinem unmittelbaren und erweiterten Kontext, dann entfaltet es eine bemerkenswert differenzierte Sicht auf die Ambivalenz des Heroischen, deren begriffliche Dimensionen es im Folgenden freizulegen gilt.
I.
Um die auffällige Konjunktur der Frage, was ein Held sei, besser zu begreifen, bietet es sich an, mit den vorliegenden Materialien zu ihrer Beantwortung zu beginnen. Die einfachste Antwort lautet: Helden sind nicht wie du und ich, sondern besser. Sie tun Dinge, zu denen den meisten Menschen die Kraft, das Geschick, die Klugheit und vor allem der Mut fehlen. Aber das allein reicht noch nicht. Ein Held ist jemand erst dann, wenn er seine außergewöhnlichen Taten nicht für sich, sondern im Interesse einer Identität stiftenden höheren Sache vollbringt. Heldenverehrung ist Identifikation durch Bewunderung. Problematisch wird der Heldenbegriff dort, wo höhere Anforderungen an ihn gestellt werden. Wahre Helden, so lautet der moralisch erweiterte Anspruch, vollbringen ihre Taten unter Inkaufnahme erheblicher persönlicher Nachteile oder sogar existentieller Risiken. Sie retten Leben, ohne Rücksicht auf das eigene, sie setzen sich ein für Freiheit und Gerechtigkeit, auch dann, wenn der Gegner übermächtig und der Kampf lebensgefährlich ist. Die Nähe zur Gefahr und die Bereitschaft zum Opfer sind mit der Figur des Helden seit jeher untrennbar verbunden.
Nun gehört es zu den schmerzhaften Lektionen des zwanzigsten Jahrhunderts, dass sich gerade dieser Aspekt des Heroischen als besonders missbrauchsanfällig herausgestellt hat.
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- The Brecht Yearbook / Das Brecht-Jahrbuch 48 , pp. 251 - 272Publisher: Boydell & BrewerPrint publication year: 2023