Die Frage nach dem hermeneutischen Grundansatz der Exegese beschäftigt heute viele Theologen. Symptomatisch ist die Diskussion über das Problem ‘historischer Jesus und kerygmatischer Christus’, in die vornehmlich Exegeten verwickelt sind.2 Die Auseinandersetzung droht sich innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft zu einer Methoden- und Grundlagenkrise auszuweiten. Eine solche Entwicklung ist aber auch ein Zeichen für die heutige Gesamtsituation in der Theologie und kann ein förderlicher Prozeß sein, der die Exegeten zwingt, über ihren engeren Fach- und Forschungs bereich, die historisch-kritische Auslegung der Bibel, hinauszublicken und sich über die Voraussetzungen und Konsequenzen ihrer Arbeit Rechenschaft zu geben. Wenn wir uns nur um die philologische Erklärung der Texte mit allen implizierten Fragen der Textkritik und Textgeschichte, der Zeit und Umwelt des Neuen Testaments, des religionsgeschichtlichen Vergleichs, der Philologie und Archäologie kümmerten, wären wir keine Theologen mehr. Heute sehen wir deutlicher als im vorigen Jahrhundert mit seinem Leitbild einer möglichst ‘objektiven’ oder ‘neutralen’ Wisscnschaft, daß die Auslegung alter, besonders philosophischer und religiöser Texte weit mehr erfordert als die Anwendung philologischer und historisch-kritischer Methoden. Wir können eine historisierende Exegese, die den Text nach dem äußerlich erkennbaren Sinn erklären und historische Tatbestände feststellen will, und eine weiterreichende theologische Interpretation unterscheiden, die den für uns als gläubige Christen bedeutsamen Sinn herausstellen und uns in unserem Mensch- und Christsein, vielleicht fragend und herausfordernd, treffen will. Wir können aber dieses zweifache Bemühen nicht säuberlich scheiden; wir können weder bei der kritischen Forschungsarbeit unsere Stellungnahme als Mensch und Christ verleugnen noch als gläubige Christen die Ergebnisse kritischer Untersuchung ignorieren.