Wie die anderen großen Klassiker seiner und früherer Zeiten, hat auch Goethe nie Deutschunterricht im heutigen Sinne genossen. Es mag dahingestellt bleiben, ob er trotzdem oder deswegen ein—Goethe geworden ist. Tatsache ist jedoch, daß er seit etwa einem Jahrhundert im Deutschunterricht gelesen wird und daß es trotzdem noch keine größere, das Thema auch nur annähernd erschöpfende Arbeit gibt über die Behandlung, die sein Werk und seine Persönlichkeit auf der deutschen Schule erfahren haben. Eine seltsame Unterlassung in Anbetracht der sonst schon längst ins Unermeßliche angewachsenen Goetheliteratur ! War und ist die Schule denn nicht der Ort auf dem Goethes großen Nachfolgern, seinen Widersachern, und auch uns, seinem Publikum im allgemeinen, eine erste Kenntnis seiner Art und Eigenart vermittelt wurde? Mogen die Umstânde dieser ersten Bekanntschaft nicht oft genug fürs ganze Leben ausschlaggebend gewesen sein? Und hat Goethe selber die Wichtigkeit gerade des dichterischen Schulerlebnisses nicht hoch genug angesetzt als er in den Wahlverwandtschaften schrieb, daß “ein Lehrer, der das Gefühl… an einem einzigen guten Gedicht erwecken kann,” mehr leistet als einer, “der uns ganze Reihen untergeordneter Naturbildungen der Gestalt und dem Namen nach überliefert?”—Diesen Worten können freilich andere entgegengesetzt werden, etwa diejenigen, mit denen der um den Deutschunterricht besonders verdiente Rudolf Hildebrand in seinem Buche Vom deutschen Sprachunterricht (1867) den damaligen Schulbetrieb charakterisierte: “Der Unterricht im Deutschen gilt den Lehrern… nicht als der leichteste und angenehmste, ja vielen wohl als der schwerste und lästigste, und lästig, nicht selten geradezu langweilig, selbst sterbenslangweilig, nicht den Lehrern bloß, auch den Schülern, und nicht an Volks- und Bürgerschulen bloß, ebensogut, ja besonders an Gymnasien.”