Das Problem der religiösen Anschauungen, die dem Irdischen Vergnügen von Barthold Heinrich Brockes zugrunde liegen, hat in der Forschung keineswegs die Beachtung gefunden, die es in Anbetracht der Tatsache verdient, daß dieses Werk vom ersten bis zum letzten Gedicht religiöse Bedeutung hat und ohne eine genaue Kenntnis der Religion seines Verfassers schlechthin unverständlich bleibt. Die bedeutsamste Spezialuntersuchung, die diesem Problem gewidmet ist, ist der bekannte Aufsatz von David Friedrich Strauß (1861),1 und die Schlußfolgerungen zu denen dieser große Streiter für religiose Aufklärung gelangte, werden auch heute noch häufig ohne weitere Untersuchung angenommen.2 Strauß sieht in Brockes einen entscheidenden Wegbereiter des Deismus und charakterisiert ihn als einen Denker, in dessen Werk sich der Sturm vorbereitete, “der das Gebäude des positiv christlichen Religionssystems so schonungslos wegzufegen Anstalt machte.” Daß dieses Resultat einigermaßen überraschend ist und jedenfalls nicht dem ersten Eindruck des Werkes entspricht, dessen ist sich Strauß sehr wohl bewußt, doch fühlt er sich seiner Sache auf Grund der folgenden fünf Beweise sicher. “Die ganze Brockes'sche Naturpoesie ist ein gereimter physico-theologischer Beweis,”3 und wenn auch Brockes die Offenbarung nicht völlig aufgibt, so ist sie doch tatsächlich überwunden, denn “wer die gesamte Natur als Offenbarung Gottes begreift, der braucht nur den Muth zu haben, sich zu gestehen was er denkt, um jede besondere Offenbarung als überflüßig zu erkennen … ”4 Als zweiten Grund führt Strauß die Toleranz des Dichters an, die ihn selbst gegenüber Atheïsten nicht verläßt;6 seine scharfe Kritik an Christen und ihrem Wandel6 wie seine Charakterisierung Gottes als “Weltgeistes”7 stellen zwei weitere Bekräftigungen seiner These dar, und die Tatsache, daß Reimarus den Dichter in seine sonst so ängstlich gehüteten theologischen Geheimnisse einweihte,8 setzt dem Ganzen gewißermaßen die Krone auf.